Liane Dirks


Do. 22. März 2007
20.00 Uhr

Endzeit-Szenario. Eine Chronik der Zukunft
Liane Dirks stellt ihren neuen Roman
»Falsche Himmel« vor

Dichterlesung und Gespräch mit der Autorin


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Ein Buch, das aufs Ganze geht. Ein Tagebuch-Roman, "hinterlegt vor dem Durchschreiten einer Lichtschranke". Eine Chronik der Zukunft, die ernst macht mit dem Endzeit-Szenario des UNO-Klimaberichts. »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus, reduziert auf nüchterne Hauptsätze, weil für Sprachgefälligkeiten keine Zeit mehr ist. Kahlschlag-Prosa im Sinne von Wolfgang Weyrauch: "Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser." Nach Piwitt, Christian Geissler und Sibylle Lewitscharoff nun eine weitere Autorin der dichterischen Apokalypse, die die scheinbar so heile Welt der deutschen Volksgemeinschaft gegen den Strich bürstet.

Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild1Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild2Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild3Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild4Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild5Liane Dirks im AL-Kulturzentrum 2007_Bild6


Aus der Einführung von Mira Maase


Mut ist eine Eigenschaft, die bei uns Frauen nicht eben selbstverständlich ist. Was man einem Peter Høeg beinahe selbstverständlich zugesteht, nämlich daß er ein Schriftsteller ist, der Mut hat, wird bei einer Autorin wie Liane Dirks sogar von ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen zuweilen hämisch bekrittelt. Dabei sind Høeg und Dirks durchaus vergleichbar, denn beide packen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, das Thema Lebensqualität und damit das Paradigma des Überlebens der Menschheit mutig an. Liane Dirks hat sich in ihrem neuesten Buch »Falsche Himmel« dem Problem der Klimakatastrophe gestellt, das im Augenblick ganz oben auf der Hitliste der Medien steht. Sie hat sich kundig gemacht und liefert nun eine negative Utopie, die aus Rimbauds »Ein Aufenthalt in der Hölle« ebenso Unterfütterung erhält wie aus der Apokalypse des Johannes. Die Sprache ist nüchtern, und der Stil ist der eines sachlich notierenden Berichtes. Daraus ergibt sich das Klangbild einer spröden Poesie.


Keiner will etwas von den Katastrophen wissen, auf die uns dieses Buch vorbereiten soll. Aber es hilft nichts, wegzuschauen. Worauf Liane Dirks in ihrer Prosa immer Wert gelegt hat, das ist das genaue Hinsehen. "Hinsehen tut gut", sagt sie, "es ist das einzige, das hilft."


Wenn sie uns in diesem Buch sagt: "Die ganze Erde ist krank", dann meint sie es in derselben Weise wie der große Biologe Jakob von Uexküll, von dem der Begriff "Umwelt" geprägt worden ist. Dieser erste Umweltforscher verstand unter Umwelt, daß die Innenwelt genauso zur Umwelt gehört wie die Außenwelt und beide einander bedingen. »Falsche Himmel« ruft also zu einer notwendigen Diskussion über ethische Werte auf. "Ich glaube nicht, daß wir etwas in unserem Denken verändern müssen", sagt Liane Dirks, "sondern daß wir uns selbst verändern sollten." Literatur und Ökologie gehen hier also erstmals eine Verbindung ein. Wenn die Menschheit überleben will, muß sie mit wachem Bewußtsein in sich aufnehmen, was die Dichtung seismographisch registriert. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Lesung und im Anschluß daran ein interessantes Gespräch.

(Fotos: © Peter Worm)

Do. 15. Dezember 2005
20.00 Uhr
Liane Dirks (Köln) liest
»Narren des Glücks« (Roman)

Autorenlesung mit Diskussion


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Buchcover, Liane Dirks "Narren des Glücks"

Liane Dirks wagt sich an Abgründe heran, in die ein Günter Grass sich nicht trauen würde. Nach »Vier Arten, meinen Vater zu beerdigen«, mit dem sie im November 2002 bei uns gastierte, folgt nun der lang erwartete neue Roman »Narren des Glücks«. Er spielt am Sylvesterabend des Schicksalsjahres 1929 am Lago Maggiore und beschwört eine moderne Katastrophe. Mit feinem Gespür für die Balance zwischen historischen Fakten und künstlerischer Freiheit inszeniert Liane Dirks ein magisches Drama. Im Mittelpunkt steht die Suche des Menschen nach Selbsterkenntnis, und der Satz: "Wir sind alle nur Sandkörner im Meer der Erscheinungen" erlangt eine existentielle Bedeutung.


"Lebensentwürfe, die in die Katastrophe führen"
Auszüge aus dem Autorengespräch mit Liane Dirks am 15.12.2005 über ihren Roman »Narren des Glücks«
(Moderation: Mira Maase)
(Fotos: © Peter Worm)

Frage:

Fangen wir mit Ihren Figuren an: Einige sind ja historisch verbürgt, andere sind erfunden, aber alle entfalten ihre Wirkung. Welche Figuren sind Ihnen besonders nah?

Liane Dirks:

Sie sind mir alle nah. Dies Buch hat für mich etwas Besonderes insofern, als ich merke, daß es mich noch bewegt. Meine anderen Bücher bewegen mich schon auch noch, aber sie sind abgeschlossen. Das liegt daran, daß in diesem Buch sehr sehr viel drin ist: Als ich hierher geflogen bin und überlegt habe, was ich heute lese, da habe ich mir gedacht, daß der Konrad Nemeczi doch ein verdammt kluger Bengel ist. Und da war er es, der mich schon sehr beschäftigt hat - was seine Aufgabe im Leben ist. Es geschieht zwar anderen Fürchterliches, aber er erleidet besonders Fürchterliches in diesem Buch, er, der so gut sein will. Da passiert ja noch viel, da tritt er in den Vordergrund. Natürlich anfangs, als ich das Buch anfing zu schreiben, war es auch er, aber als ich dann auf die Russin stieß, war es dann eine Zeitlang die Russin, weil dieses Weib einfach eine "toughe" Frau war. Und auch die kleine Linda. Die Linda, die ist etwas ganz Merkwürdiges, die ist ein völlig untypisches Kind, die ist auch völlig untypisch geschildert, gar nicht so sympathisch und die mischt ja auch alle noch auf. Die Linda hatte ich gar nicht so vorgesehen. Die ist gewachsen in diesem Buch, und ich konnte ihr immer weniger ausweichen mit den Frechheiten, die sie macht. Und wenn man sich fragt, was Kinder so alles schon bergen, an Größe, an Schicksal und Eigenwilligkeit, dann geht mir die Linda sehr nah. Die führt ja die anderen in die Katastrophe, indem sie den Schlüssel nimmt … Das sind die bösen zündelnden Kinder - das Paulinchen hat mich ja auch früher schon beschäftigt.

Frage:

Den Traum-Prolog habe ich nicht verstanden.

Liane Dirks:

Ich finde, daß das Buch auf verschiedenen Ebenen lesbar ist. Sie können das wie einen Krimi lesen, es gibt eine Rahmenhandlung, und das ist wie "Who done it?". Wie kommt es zu dem Feuer, und dann erfahren Sie das am Ende. Sie können aber auch die Geheimnisse in diesem Buch herausfinden. Es gibt einen Prolog, es gibt eine Rahmenhandlung, dann geht's los, das macht aber Sinn. Und der Prolog, ich habe lange darüber nachgedacht, der war als erstes da. Dieses Bild. Und der kommt in kleinen Motiven immer wieder vor. Immer öfter sagt der Nemeczi, der hat den Traum wieder gehabt, er hat geschwitzt, er hat wieder geträumt. Am Ende, je weiter Sie in diesem Buch gehen, kommen Motive aus diesem Traum, zum Beispiel gibt es diese Leuchter, die dort herumgetragen werden, wirklich, und zwar auf der Insel bei dem Max Bernheim, der die gesammelt hat, diese mittelalterlichen Leuchter. Am Ende des Buches merken Sie, es gibt einen Umzug. Der ist zwar ganz anders, aber Sie merken, daß etwas im Leben passiert, und das ist die höchste Ebene in diesem Buch für mich, daß Konrad Nemeczi als Psychiater und tiefer Mensch von Anfang an mit einem Traum konfrontiert ist, den er nicht deuten kann. Was ja für einen Psychiater und Analytiker eine große Aufgabe wäre.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 1

Was mich daran bewegt, und das ist ja der Kern des Buches, das ist die Aufgabe, die wir haben. Er ringt um seine Aufgabe, er ringt wahnsinnig, und er denkt tief, und er tut Gutes, und er verpaßt sie. Weil er trotzdem nicht in der Realität ist. Die Realität ist die Linda und das Wetter und das alles. Und er ist fixiert darauf, was er machen will. Es gibt Träume - wir haben das verlernt, in der Bibel weiß man das noch - die kommen aus der Zukunft. Dann kommt der Traum und die Propheten müssen mit dem Traum umgehen. Aber das gibt es auch bei uns. Nennen Sie es meinetwegen eine Vision, manche haben das als Traum und manche haben das anders. Er aber hat halt eine sehr schwierige Aufgabe, und als er durch alles durchgegangen ist, was nicht einfach ist, findet er einen Weg. Darum habe ich dann nach reiflicher Überlegung den Traum drinnen gelassen, wissend, daß er den Leser erst einmal fordert. Da habe ich gedacht: Wer will, der läßt sich reinziehen, und wer es nicht will, der sagt: Das verstehe ich nicht. Ich konnte nicht verzichten auf den Traum.

Der Traum war immer das erste, der war da. Und ich wußte, wie die Geschichte geht. Ich habe ein Bild gesehen, das gab es, von einem dieser Umzüge, es stammt aus Hamburg, und das war gar nicht mehr Mittelalter, es war danach, wo es solche Umzüge mit einer Abendleiche gegeben hat. Die wurde hochgehalten, und das ganze Volk kam zusammen. Das hat mich beschäftigt, daß die die reichen Menschen durch die ganze Stadt tragen und daß so ein Gedränge drum herum ist - das müssen wir jetzt nicht platt aufschlüsseln, als Bild der Zeit, als Ende einer Zeit, das ist einfach so da.

Hier wird ein bestimmter Ton angeschlagen. Das ist, was man in der Poesie macht: Da geht so ein Raum auf, und dieser Prolog schlägt den Ton an für die Geschichte, die kommt. Es gibt so eine bestimmte Schwingung in Geschichten, die kriegen wir nicht geregelt, die bleibt, das ist das Wunderbare an der Sprache, die wird erhalten bleiben. Die ist das, was uns berührt. Was uns berührt, ist nicht, daß ich ein bekanntes Wort ans andere reihe, sondern das ist das Bild, der Klang. Sie haben vielleicht gemerkt, es sind lange Sätze, die gehen immer im Kreis, und so gehen die ja auch, von Kopf zu Kopf. Ich bin einmal im Kopf der Russin, dann bei Bernheim, dann bei dem Psychiater - die drehen sich immer im Kreis.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 2

Ich habe ja nicht nur böse Kritiken bekommen, sondern auch verletzende und gehässige Kritiken gekriegt, und die kriegt man nur, wenn jemand getroffen ist. Da habe ich irgend etwas erwischt, wo die so sehr draufhauen müssen. Ich habe eine Veranstaltung zusammen mit einem Psychiater gemacht, der hat mich eigentlich darauf gebracht, er sagte: Sie provozieren ganz einfach unheimlich, dann kriegt man auch was ab, dann kommt etwas zurück. Da ich eigentlich eher immer lieb sein will, mußte mir das erst jemand sagen. Ich habe nicht das geschrieben und gedacht: ich provoziere jetzt mal heftig, wirklich nicht!

Frage:

Kann man als Schriftsteller vom Schreiben leben?

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 3

Liane Dirks:

Das ist schwierig, das ist sehr schwierig. Es ist so: Wenn man, wie ich jetzt, schlechte Kritiken bekommt, kriegt man keine Einladungen zu Lesungen, dann kriegt man keine Stipendien und keine Preise. Das ist ein Karussell. Natürlich leben die meisten in Deutschland, die schreiben, von dieser Maschine. Sie leben nicht von dem Buch, das verkauft wird, oder nur zum geringen Teil, sie leben von dieser Maschine, dem Betrieb. Und dann ist es natürlich schon schwer. Ich habe jetzt eine Menge anderer Arbeiten anleiern müssen - ich kann nicht von dem Verkauf dieses Buches leben, aber auch nicht von den vorigen. Also eine Zeitlang, aber das rettet mich nicht, bis ich das nächste Buch habe. Dann muß ich zwischendrin Besprechungen machen oder kleine Bücher herausgeben.

Frage:

Was bedeutet das Glashaus, in dem die Patienten untergebracht sind?

Liane Dirks:

Das Glashaus habe ich ganz einfach gesehen. Das ist einfach eine Möglichkeit, etwas hell, luftig, provisorisch einzurichten für seine Patienten - er kommt ja nur zu den Ferien dort hin. Das war einfach das Spiel damit, und daß er sie liebt wie Pflanzen - ich bin ja auch eine leidenschaftliche Gärtnerin. Nicht, daß ich Menschen mit Pflanzen vergleiche, es geht um die Art der Zuwendung: wachsen lassen und blühen, schützen.

Frage:

Es geht in dem Buch ja um Lebensentwürfe, die in die Katastrophe führen. Und in der Mitte des Buches gibt es eine Bemerkung des Doktors, die wie ein Gegenentwurf wirkt: "Die Menschen mußten lernen, Offenheit zu ertragen. Es schien dem Doktor, als gelte das nicht nur für die Psychiatrie." Ist hier mit der offenen Psychiatrie eine Utopie angesprochen - die Offenheit?

Liane Dirks:

Ich bin mit Konrad Nemeczi absolut d'accord. Ich finde, daß Offenheit das einzige ist, was uns rettet. Also zu lernen, Vorurteile wegzulegen und Offenheit auszuhalten, Offenheit ist nämlich sehr anstrengend. Das muß man lernen, sogar körperlich kann man das lernen. Wenn man offener wird, dann muß erst mal hier (sie zeigt auf ihren Nacken und ihre Schultern) alles aufgehen, wir sind ja so gepanzert. Das ist wirklich ein Modell.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 4

Natürlich denkt er das nicht nur für die Psychiatrie, aber da denkt er es; und ganz konkret war ein Anlaß für mich, dieses Buch zu schreiben, daß ich eine Zeitungsnotiz gelesen habe über einen Brand in einem norditalienischen Psychiatrischen Krankenhaus. Und da waren alle Insassen verbrannt. Die Zeitungsnotiz war ganz klein. Daneben viel größer, daß irgendein Star sich zum siebten Mal hat scheiden lassen. Und das hat mich sehr berührt, das habe ich ausgeschnitten und gedacht: Von Italien ging damals diese Freie-Psychiatrie-Bewegung aus. Die sicher Fehler gemacht hat, es überzogen hat - es ist oft so, daß Ideen erst mal übertrieben und dann zurückgenommen werden - man hat den Kranken viel zu viel zugemutet. Dennoch war es mal eine Zeit, als das alles diskutiert wurde. Und als ich anfing, Schriftstellerin werden zu wollen, Heinar Kipphardt las, sein Buch »März« und seine »Traumprotokolle«, in denen er versucht hat, die Sprache der Psychiatrie-Patienten einzufangen. Ich glaube, daß man die Angst einer Gesellschaft daran erkennt, wie sie mit den Ausgegrenzten umgehen, ob das die Ausländer sind, ob das die Behinderten sind, oder ob das die Geisteskranken sind. Und da ich mich mit den Zwanziger Jahren in meinem vorigen Buch schon beschäftigt hatte, da habe ich dort noch mal nachgelesen und war fasziniert von der Offenheit, mit der in dieser Zeit diskutiert wurde. Diese Modelle gab es. Es gab den Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger, der im Patienten die ganzheitliche Persönlichkeit mitsamt ihrem sozialen Umfeld sah und deshalb in seinem Sanatorium in Gemeinschaft mit seinen Patienten lebte.

Und dann habe ich für dieses Buch sehr viel Psychiatrie-Literatur gelesen, da wo an der Front gearbeitet wurde - deshalb stimmt das mit dem "Seelengedanken" im Buch. Die Eugenik, die Sterilisation, der Gedanke der Ausmerzung Geisteskranker, der sehr stark von der Schweiz ausging. Es war der Psychiater Eugen Bleuler, der als Professor in Zürich den Krankheitsbegriff Schizophrenie prägte. Und in dem Schweizer Klinikum Burghölzli, wo C.G. Jung sein Assistent war, ist flott zwangssterilisiert worden. Das waren Zustände, die kann man sich gar nicht vorstellen. Jung geht ja ein bißchen darauf ein, er hat ja auch aufgepaßt, aber inzwischen ist ja von dem Institut auch einiges veröffentlicht worden. Das war sozusagen der wissenschaftliche Diskurs, der noch darunter liegt. Das ist eigentlich auch mein Anliegen gewesen mit diesem Buch: Wäre es nicht wert, wieder darüber nachzudenken? Wobei ich nicht sagen will, daß es keine Entwürfe gibt, aber es geht darum, was in der Gesellschaft ist. Ich habe ja schon auf Psychiatriekongressen gelesen, und da ist mir bestätigt worden: Die Lage ist desolat.

Frage:

Können Sie erzählen - das gehört ja zur Magie des Schreibens - was Sie erlebt haben, nachdem Sie die offene Psychiatriegruppe am Schluß des Buches nach den USA, nach Colorado geschickt haben?

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 5

Liane Dirks:

Ich muß noch zu dem Vorigen sagen, daß das ja nicht alles in die Enge, auf ein Ende zu geht, es tut sich ja auch viel. Nur mit der Russin geht es zu Ende, das Zarentum kommt nicht zurück, hätte sie Putin erlebt, hätte sie vielleicht noch eine echte Chance gekriegt. So muß sie eben schmollen, weil Lenin im Smolny-Institut war, wo sie noch als höheres Töchterchen unterrichtet wurde. Aber es gibt ja eine Veränderung bei Bernheim, der seinem Bruder nahe kommt. Es tut sich da schon einiges. Ich habe gedacht, ich will nicht, daß das nur schlecht ausgeht, nach schlimmen Dingen kommt die Läuterung. Es muß auch etwas Schönes kommen, und wo schicke ich nun Konrad Nemeczi hin? Da kommt ja noch eine Frau ins Spiel, mit der er weggeht. Und Nike darf ja auch ruhig reich werden. Er hat ja dann eine Andere. Nike gönne ich das auch, die finde ich übrigens auch gut, mir gefällt das Décolleté. Man müßte so eine Fülle haben wie die. Er geht also nach Amerika. Und ich wußte, es gibt dort in Boulder, Colorado, eine Buddhistische Universität (nach diesem buddhistischen Meister, der dort war, meditiere ich schon seit zwanzig Jahren), ich habe gedacht, das ist ein guter Ort, da schickst du ihn hin und läßt ihn seine Lehren verbreiten. Und dann bekam ich ein Schreiben von einem Psychiater, wen ich denn da meinen würde, das käme zeitlich doch nicht ganz hin. Denn der Psychiater, der dort gelebt hätte und dieses Modell der freien Psychiatrie dort entwickelt habe, der wäre doch erst später dort hingekommen. Dann habe ich diesen Psychiater und Analytiker angeschrieben, und der erzählte mir dann, daß dort tatsächlich ein Psychiater diese Form der freien Psychiatrie gemacht hätte, die Gruppe heißt "Windhorse", in Deutschland gibt es diese Gruppe ganz klein, in Österreich und Amerika ist sie groß. Es hatte also tatsächlich jemanden dort gegeben - inzwischen ist er leider an Krebs gestorben - , der hat genau das gemacht - und das wußte ich aber nicht - was Konrad Nemeczi erfunden hatte, und das ist die Magie des Schreibens. Das wundert mich inzwischen nicht mehr.

Ich erzähle Ihnen jetzt noch eine Geschichte: Ich hatte eine Lesung am Lago Maggiore. Ich war dort eingeladen in Ascona in einem wieder im schönen Bauhausstil der 20er-Jahre aufgebauten Cafe. Und ich hatte gelesen und hatte die Insel im Hintergrund. Und es war für mich wirklich wunderschön. Ich hatte eine Einladung von einem Hotel - in der Schweiz machen die das so, ein richtiges Mäzenatentum - da wird man als Schriftsteller eingeladen, man kann kostenlos wohnen und frühstücken, Mittagessen gibt es schon nicht mehr - und dann durfte ich dort vier Tage residieren. Bevor ich dort hinfuhr, nahm ich noch mal ein Buch über die Region zur Hand, über den Monte Verità, über Ascona, über die Inseln. Auf diesem Buch ist ein sehr berühmtes Foto, das von den Brissago-Inseln aus gemacht wurde, da sieht man durch ein steinernes Fenster von den Brissago-Inseln auf Ascona, was ja mal dieser mondäne, schicke Ort war. An diesem steinernen Fenster hat sich jeder mal fotografieren lassen, der Aga Khan, Adenauer, alle waren sie mal dagestanden an diesem Fenster. Aber zu Max Emdens Zeiten, der ja da wirklich residiert hat, standen dort die hübschen Nackten. Und auf diesem berühmten Foto sieht man drei nackte Hübsche, diese hübschen Frauen aus den Zwanziger Jahren, mit Bubikopf und diesen wunderbaren Körpern. Man sieht sie von hinten, und die eine hat ein Röckchen, die anderen sind ganz nackt. Und ich nahm dieses Buch und dachte: Mein Gott, was für eine Geschichte, wer die wohl waren! Und dann bin ich da runter gefahren und habe meine Lesung gemacht, und dann kam eine sehr alte Dame auf mich zu und sagte, sie wolle mich mal sprechen, aber ich müßte zu ihr kommen, zu einer Teestunde. Sie würde mir nicht sagen, was sie mir sagen will. Ich dachte, da gehst du hin, die kennst du schon, die Alten, die haben immer was in petto. Und ich hatte meinen Freund dabei, der ist auch Schriftsteller.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 6

Dann sind wir da hingegangen, zu der alten Dame in ein ganz normales Mietshaus; und da hatte sie den Tisch gedeckt, lauter Bücher standen rings herum, und auf dem Tisch war ein Teller mit einem breiten Goldrand und auf dem Teller eine Tasse, ebenfalls mit breitem Goldrand, verschnörkelt. Mein Freund, der sehr groß ist, guckte rein und sagte: "Aha, du hast nicht gesagt, daß ich mitkomme." Ein Gedeck! Und dann kam sie und sagte, wir dürfen Platz nehmen, und er dürfe zuhören, sie würde aber nur mit mir reden. Und dann sagte sie als erstes: "Dies ist das letzte Gedeck von Max Emden." Da habe ich daraus getrunken. Und dann sagte sie: "Die Frau, die auf dem Foto in der Mitte ist, das bin nicht ich, aber das war meine beste Freundin." Und diese Frau in der Mitte, die ist dort unten berühmt geworden unter dem Namen "Würstchen". Dieser Max Emden, im Buch Max Bernheim, das ist der reiche Signore. Sie hieß "Würstchen", weil er sie immer Hanswurst genannt hat. Sie ist sehr jung zu ihm gekommen, mit 17, sie ist von ihren Eltern abgehauen und war eine von den Inselmädchen dort, eine von dem "bunch of beautiful german ladies", so stand es damals in der Zeitung, und sie war die Hauptfrau sozusagen. Da hatte er zu ihr gesagt – und das erzählte mir die alte Dame - "Du darfst so lange bei mir bleiben, wie du mich zum Lachen bringst!" Und da kriegt jetzt plötzlich dieser Name "Würstchen" so etwas Hartes und Erschütterndes. Und der ganze Nachmittag ging so aus, daß ich das Erbe von Würstchen bekommen habe. Würstchen hat nämlich keine Nachkommen, sie hieß später Frau Loup, und die ist in Ascona sehr bekannt, und sie hat Emden überlebt, sie blieb ihm immer treu. Und ich habe jetzt alle Fotobände von Würstchen, sie liegen jetzt unter meinem Bett. Da sieht man sie mit Remarque zum Beispiel, sie waren sehr eng befreundet gewesen und auf großen Weltreisen, er hat ihr aber nichts vererbt. Die Geschichte von Würstchen muß nun noch geschrieben werden. Für mich ist das sehr berührend - das habe ich ja zuhause geschrieben - , wenn die Figuren aus dem Buch steigen und "Hallo" sagen, "mich gibt's!"

Frage:

Was hat Sie im Herzen, in Ihrer Seele dazu veranlaßt, dieses Buch zu schreiben?

Liane Dirks:

Es Ihnen klar, daß bei meiner Theorie des Schreibens, die auch meine Praxis des Schreibens ist, ich Ihnen den Kern nicht formulieren kann. Das bleibt ungesagt, das ist geheimnisvoll, was einen etwas machen läßt; und ich glaube, wenn man das ganz genau weiß, dann geht das nicht. Ich glaube, daß der kreative Vorgang so funktioniert, daß man ahnungsvoll etwas eingeflüstert bekommt, und dann muß man auch gehorchen und das machen.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 7

Das ist das, was C.G. Jung einmal die Synchronizität genannt hat: daß Sie an einer Schiene unheimlich beschäftigt sind, und daneben rauscht das Leben vorbei, und die beiden haben miteinander zu tun. Außerdem stieß ich auf einen zweiten Begriff, "die Nachtmeerfahrt der Seele", der Arbeitstitel war für mich "Die Nachtmeerfahrt des Konrad Nemeczi". Mich hat in meinem Leben beschäftigt, wie man durch Dinge hindurchgeht, auf die jeder in seinem Leben einmal trifft - große, schwierige Aufgaben, die einen an eine Schwelle bringen können, wo man sich - so wie man sich kennt - auflöst. Und da geht man hindurch, und dann man ist man ein neuer Mensch. Und das macht der Nemeczi. Und das war schon das Eigentliche. Und dann gibt es Facetten, die kommen da drum herum: Ich bin schon immer ein politisch sehr engagierter Mensch gewesen. Mich haben immer Themen wie die Psychiatrie beschäftigt oder solche Fragen nach Lebensentwürfen: Ist eine Gesellschaft offen oder wann werden Gesellschaften wieder eng? Wenn sie nämlich Schiß kriegen, daß es ihnen ans Leder geht, dann schotten sie sich wieder ab. Wie nach den Zwanziger Jahren: Warum ging das wieder nach innen, warum konnte man die Freiheit nicht aushalten? Oder war es überhaupt eine richtige Freiheit oder nur eine inszenierte? Solche Facetten kommen dann da so drum herum. Der Kern ist dann schon, bei mir jedenfalls, immer etwas sehr Tiefes. Was ich dann gestalten muß. Ein Buch ist ja eine Gestalt. Das ist auch zu wenig präsent. Ein Buch hat ja zunächst mal diesen Körper und ist tatsächlich Form: Warum man das auf diese Weise aufbaut, ob es eine Rahmenhandlung kriegt oder nicht, wie die Sprache geht, ob es klingt, und dann eben auch, ob es lustig ist. Es ist ja auch viel Humor da drin. Das haben Sie zum Glück gemerkt, da bin ich ja total erleichtert. Sie sind ein sehr gutes und geschultes Publikum, das merkt man, weil Sie lachen können. Das ist wichtig, denn manche denken ja: Oh, da geht's um Psychiatrie, da will ich mal lieber Haltung annehmen. Man kann aber lachen darüber. Was für mich ganz schön war: Ich habe sehr viel Post auch von Kranken bekommen. Die haben geschrieben, manchmal sogar in Zeitschriften, in Rundbriefen, sie sind erleichtert, daß sie endlich mal nicht der Mörder sein müssen, daß sie Menschen sein dürfen, daß sie volle Charaktere kriegen. Ich hatte auch ein bißchen Angst, ob ich sie so lustig nehmen darf. Aber sie gehen ja miteinander so um, sie nennen sich ja selber so. Da war ich glücklich, daß ich das richtig getroffen habe, da hatte ich vorher ein bißchen Bedenken, ob ich das tun darf, daß ich sie "Zahlmeister" nenne oder "debiles Lottchen", ob das richtig ist, aber das habe ich bestätigt bekommen: Sie gehen in der Psychiatrie so miteinander um. Meine Tochter arbeitet in der Psychiatrie auf der geschlossenen Abteilung und sagt: Das stimmt so, Mama.

Frage:

In Ihrer Lesung endete ein Teil mit dem Satz: "Der Druck kam von außen." In den letzten zwanzig Jahren ist der Druck in der Gesellschaft massiv gewachsen, ökonomisch, politisch, sozial. Ist das nun eine politische Ebene, die Sie da in Ihrem Buch ansprechen?

Liane Dirks:

In diesem weiten Sinn finde ich, daß Politik so verstanden werden sollte. Es gibt ja diese Trennung in Wahrheit gar nicht. Wie gestaltet sich eine Gesellschaft? - die gestalten ja wir! Ich habe hier gerade gehört, daß jemand gesagt hat, es hat sich ja keiner gewehrt. Wir kommen jetzt auf ein weites Feld, aber die Frage kann ich mit ja beantworten. Hier an der Stelle ist der Druck noch umfassender gemeint: Die äußere Katastrophe ist das Wetter. Die Natur. Ich hab in meinen Büchern immer so etwas wie einen großen Sturm. Ich war jetzt gerade in den USA, als diese Hurrikans waren und New Orleans unter Wasser ging. Dieses Gefühl, wir haben eine Sicherheit, aber die geht zu Bruch, entweder weil da jemand in einen Tower reinfliegt oder weil plötzlich so ein Sturm alles wegweht, oder weil in Nordrhein-Westfalen mal vier Tage der Schnee fällt.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 8

Dieses Brüchige des Lebens, das ist eben das, wenn man offen ist und das aushält, dann gehört das alles dazu, daß man weiß, wir sind hier eine vorübergehende Existenz, jeder von uns. Dann kann man dieses Leben sehr genießen, aber das sollte man dann auch, und es wertschätzen. Die Stelle ist in diesem umfassenden Sinn gemeint, und ich habe sehr genau das Jahr 1929 gewählt; dieses Ahnen von dem was kommt, wie wollten Sie das denn beschreiben? Gerade da unten am Lago Maggiore, wo alles schön ist, das ist ja nur etwas Diffuses, was man so merkt. Wie wir im Leben ja auch nur so etwas Diffuses merken. Wie werden alle immer ärmer, das ist nichts Gutes, aber das merkt man doch einfach so, nicht mit politischen Zahlen. Dieser Druck. Mir geht das oft so: Ich finde, daß in unserer Gesellschaft wenig fundiert diskutiert wird, daß wenig Widerstand geleistet wird vor Ort gegen Dinge, die einen aufregen. Man nimmt so viel hin. So empfinde ich das, etwas Dumpfes, wo ist die Zukunft eigentlich? wo ist das Licht? Und dann macht der Max Bernheim so eine große Fete, und man denkt: Das ist das Licht. Das ist aber nur eine große Fete! Da feiern die Reichen, das ist es. Und die Kranken? Man weiß ja sowieso nicht, wer ist hier krank? Genau: Wer ist eigentlich hier der Idiot? Wer ist normal? Das ist ja überhaupt die Frage. Wer kann Realität sehen, Wahrheit einfach sehen? Ich sitze ja nicht hier und weiß die Antwort, aber ich glaube, dieses Aufreißen, das Aussprechen, dieses Sagen: So ist es!, damit kriegt man ja schon wieder Luft, ich jedenfalls.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 9

Frage:

Es geht ja schon im Titel um das Glück: »Narren des Glücks«. Was ist denn Glück für Sie, oder was ist es nicht? Könnten Sie das sagen?

Liane Dirks:

Da wird schon die Antwort geflüstert: Schreiben wahrscheinlich. Was ist Glück für mich? Das ist eine sehr persönliche Frage, aber ich will sie auch persönlich beantworten. Ich habe in letzter Zeit viele Momente ganz starken Glücks. Da funktioniert etwas in diesen Momenten, das sind Momente, in denen ich absolut präsent bin. Das mag sich komisch anhören, aber das beschäftigt mich schon lange, was das eigentlich ist. Das ist wirklich sehr privat, aber hier ist man ja sozusagen unter sich. Ich meditiere auch schon sehr lange, und ich merke, was das heißt, wenn man absolut wach ist. Das ist sehr kurz. Das durchströmt den ganzen Körper, und dann wird man ganz warm, und alles ist da! Und das gibt's auch manchmal beim Schreiben. Da gelingen mir manchmal so Sätze, wo ich denke: Ja, saugut jetzt! Vor Lust haue ich dann auf den Tisch und denke: Ja, das ist es! Ganz klasse! Dann kommt natürlich schon wieder die Müdigkeit, oder man freut sich schon wieder viel zu sehr darüber, und dann geht das schon wieder weg. Ich fange an, zu verstehen, was die damit meinen: Wenn ich trinke, trinke ich, und wenn ich esse, esse ich. Ich fange an zu verstehen, was das ist: Jetzt sitze ich hier, und jetzt beantworte ich die Frage. Und das ist total schön. Das kenne ich jetzt in verschiedenen Bereichen. Ich habe hier eine Stelle vorgelesen, wo's um Glück geht. Das kennen Sie, ob Sie Kinder haben oder nicht. Ich habe eine Glücksstelle vorgelesen: das schlafende Kind. Er macht die Tür noch mal auf, diese Seligkeit, dieses Schlafen. Oder wo er den Zopf von seiner Tochter hochnimmt und den Flaum am Nacken sieht. Oder die Natur! Das sind ja auch Momente, wo Sie ganz präsent sind, wenn Sie in der Natur stehen und sehen so einen Baum. Wenn man so ist, das ist ein universelles Gefühl, so empfinde ich das. Ein universales Glück.

Veranstaltung Liane Dirks "Narren des Glücks" 10


Do. 21. November 2002
20.00 Uhr
Liane Dirks (Köln) liest
»Vier Arten meinen Vater zu beerdigen« (Roman)

Autorenlesung und Diskussion


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Buchcover Liane Dirks »Vier Arten meinen Vater zu beerdigen« Liane Dirks, Jg. 1955, gehört zu dem kleinen Kreis autobiographischer Erzähler, die die eigene Geschichte als Stoff für literarische Darstellungen zu gestalten verstehen. In ihrem dritten Roman entwirft sie das Psychogramm eines Triebtäters. Das Bestürzende daran ist, daß dieser Mensch ihr eigener Vater war, den sie auf Anraten einer karibischen Heilerin auf vier Arten zu beerdigen hatte. Die vierte Art ist die literarische Darstellung seines Lebens. Ein Tabuthema? Wir haben mit der Autorin über den Schreib- und Erfahrungsprozeß bei diesem ganz und gar authentischen Text gesprochen.



Liane Dirks, Veranstaltung "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen"
Foto: © Peter Worm

Biographie
Liane Dirks wurde 1955 in Hamburg geboren und verbrachte ihre Kindheit in Bayern, der Karibik und Nordhessen. Nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst als Berufsberaterin, seit 1985 ist sie freie Schriftstellerin. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen.
Sie ist Mitarbeiterin der Literaturredaktion des Deutschlandfunks, schreibt Hörspiele und ist Mitglied im P.E.N.. Sie lebt in Köln und Berlin.

Bisherige Veröffentlichungen:
»Die liebe Angst«, Roman, Hamburg 1986
»Und die Liebe? frag ich sie«, Roman, Zürich 1998
»Vier Arten meinen Vater zu beerdigen«, Roman, Köln 2002
»Narren des Glücks«, Roman, Köln 2004
»Falsche Himmel«, Roman, Köln 2006
»Der Koch der Königin«, Roman, Zürich 2009
sowie zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien.

Internet Webseite von Liane Dirks

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