Ulrike Edschmid


Do. 26. September 2013
20.00 Uhr
Ulrike Edschmid liest
»Das Verschwinden des Philip S.«
Roman

Dichterlesung und Gespräch mit der Autorin


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Buchcover: Ulrike Edschmid "Das Verschwinden des Philip S." Dieses jüngste Buch von Ulrike Edschmid kommt als Roman daher, stellt aber die Erinnerung an den einstigen Lebensgefährten dar, der 1975 bei einem Schußwechsel mit der Polizei auf einem Kölner Parkplatz starb. Trotzdem handelt es sich um weit mehr als einen "Tatsachenroman"; denn wie sonst hätte Ulrike Edschmid gerade für dieses außergewöhnliche Buch den Grimmelshausen-Preis bekommen, der als Auszeichnung für Autoren gilt, die "einen bemerkenswerten Beitrag zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte geleistet" haben. Grimmelshausen (1622-1676) war der erste Romanautor der deutschen Literaturgeschichte, der sich aus eigenen Erlebnissen mit der Zeitgeschichte (Dreißigjähriger Krieg) authentisch beschäftigt hat.

Was den meisten Büchern über die sogenannte 68er-Bewegung fehlt, findet sich also hier: Tiefe, Trauerarbeit und Sprachkunst. Wieder geht es um Zeitgeschichte, aber in einer sehr verdichteten und persönlichen Sicht. Und so begegnen wir in diesem Buch dem Lebensgefühl der damaligen Generation, das etwas mit dem Streben nach Freiheit zu tun hatte: "Wir hatten das Gefühl, alles ist möglich. Und ich muß mich heute bemühen, etwas von diesem Gefühl zu bewahren." Wer heute über diese Vergangenheit nachsinnt, stößt auf humanistische Motive der einstigen Außerparlamentarischen Opposition. Was heute so gröblich verdrängt und tabuisiert wurde, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens: die Kinderladenbewegung, die Schaffung neuer politischer Verhältnisse, antiautoritäre Erziehung als Erziehung der Erzieher, ein neues Verständnis von Demokratie als Widerstandskraft gegen Diktatur und Gewalt.




Aus der Einführung von Mira Maase:

Was ist Zeitgeschichte? Die Antwort fällt nach Standpunkt eines Autors und der Perspektive seiner Sicht auf die Ereignisse einer bestimmten Zeit unterschiedlich aus. Was die Außerparlamentarische Opposition der 60er und 70er Jahre betrifft, so geben Bücher wie die Biographie »Ulrike Meinhof«, geschrieben von Mario Krebs, Peter Brückners »Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären« und Wolfgang Kraushaars »1968«, stellvertretend für viele andere, hinreichend Auskunft über das Faktische und das Theoretische. Der Wert solcher Bücher liegt in ihrer Objektivität.

Ganz anders das neue Buch von Ulrike Edschmid, die sich nach rund vierzig Jahren dazu entschlossen hat, ihre Erinnerung ganz subjektiv, also mit vollem Gefühl, ganz literarisch als Roman darzustellen. Sie hat zwar die Orte von einst wieder aufgesucht und Fotos von damals angeschaut, aber das Bild, das sie zeichnet, nicht durch Zeitzeugengespräche flankiert, sich nicht auf historische Recherchen gestützt, weder aus der Perspektive von heute verklärt noch aus ihr analysiert. Wie eine Berliner Zeitung geschrieben hat: "Gerade in der genauen Beschreibung aber wirkt dieses Buch der Mythenbildung und den verfestigten Begriffen entgegen."

"Grenzüberschreitung war damals ein Lebensprinzip", sagt Ulrike Edschmid über diese Generation der später so genannten 68er Bewegung. Und ihr Erkenntnisinteresse bezeugt sie mit dem Satz: "Mich hat immer das reale Leben mehr als die Fiktion interessiert, weil ich fand, daß das, was im realen Leben passiert, oft gar nicht vorstellbar ist." Gerade dieser radikal subjektive Ansatz wird aber hier zur Dichtung - und zwar in jenem Sinne, den auch Goethe meinte, als er seine Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« schrieb. Es ist die Sprache, die es vermag, auch das Schmerzhafte eines intensiv gelebten Lebens so darzustellen, daß der Leser und die Leserin sich mitgenommen fühlen in eine Zeit, die sie aus eigener Anschauung gar nicht kennen.

Der Mann, um den es in diesem Buch geht, war ein unkonventioneller, weil hoch künstlerischer Mensch – das schwarze Schaf einer puritanischen Fabrikantenfamile in Zürich mit calvinistischer Ideologie der reformierten Kirche, von der er sich lösen wollte. Aber die Verhältnisse holten ihn ein. Der junge Mann, der aus der spießbürgerlichen Schweiz 1967 ins revoltierende Berlin geflüchtet war, endete in einem gewaltsamen Tod, also tragisch. An diesem exemplarischen Fall also wird etwas klargemacht, was die tiefere Tragik einer ganzen Generation betrifft.

Veranstaltung 26.9.2013 "Das Verschwinden des Philip S. - Ulrike Edschmid

Veranstaltung 26.9.2013 "Das Verschwinden des Philip S. - Ulrike Edschmid

Veranstaltung 26.9.2013 "Das Verschwinden des Philip S. - Ulrike Edschmid und Mira Maase

Veranstaltung 26.9.2013 "Das Verschwinden des Philip S. - Ulrike Edschmid
Fotos: © Peter Worm

Do. 29. Mai 2008
20.00 Uhr
Zeitgeschichte auf hohem Niveau

Ulrike Edschmid (Berlin) liest
aus ihrem Roman
»Die Liebhaber meiner Mutter«

Autorenlesung mit Diskussion


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Buchcover: Ulrike Edschmid - Die Liebhaber meiner Mutter



Neugier weckt der Titel dieses Buches, das Roman heißt, aber auf Tatsachen beruht. Ulrike Edschmids autobiographischer Roman ist das Porträt einer ungewöhnlichen Frau, die ihr Schicksal bejaht und ihr Leben gelebt hat. Wie alle Bücher von Ulrike Edschmid, die 1940 in Berlin geboren wurde, aber mit der alleinerziehenden Mutter auf einer Burg in der Rhön/Hessen aufwuchs, ist auch dieses in einer schnörkellosen Prosa geschrieben, die ein literarischer Hochgenuß ist. Eines ruft dieses Buch für Zeitgenossen wieder in Erinnerung: daß die Menschen nach dem verlorenen Krieg und vor Etablierung dessen, was sich dann "Wirtschaftswunder" nannte, sich selbst so nahe waren wie nie danach.




Ulrike Edschmid - Veranstaltung am 29.5.08

Ulrike Edschmid und Mira Maase- Veranstaltung am 29.5.08

Veranstaltung Ulrike Edschmid am 29.5.08 - Zuschauer

Ulrike Edschmid und Mira Maase - Veranstaltung am 29.5.08

Ulrike Edschmid - Veranstaltung am 29.5.08
Fotos: © Peter Worm


Aus der Einführung von Mira Maase

"In der Existenzweise des Seins impliziert Erinnern, etwas ins Leben zurückzurufen, was man einmal gesehen oder gehört hat. Jeder kann diese produktive Art des Erinnerns vollziehen, wenn er versucht, sich den Anblick von Gesichtern und Landschaften ins Gedächtnis zu rufen, die er einmal gesehen hat. Das Gesicht oder die Landschaft taucht nicht sofort vor dem geistigen Auge auf. Es muß wiedererschaffen, zum Leben erweckt werden. Das ist nicht immer leicht. Voraussetzung ist, daß ich das Gesicht oder die Landschaft einmal mit genügender Konzentration betrachtet habe, um sie mir deutlich ins Gedächtnis rufen zu können. Wenn diese Art des Erinnerns voll gelingt, ist die Person, deren Gesicht ich mir ins Gedächtnis rufe, in voller Lebendigkeit präsent, die Landschaft so gegenwärtig, als habe man sie wirklich vor sich."

Was ich gerade vorgelesen habe, sind nicht meine Worte, sondern die Gedanken von Erich Fromm in seinem Buch »Haben oder Sein«. Ich stelle dieses Zitat an den Anfang meiner kurzen Einführung zu dem heutigen Abend, weil wir mit dem Stichwort "Erinnern" bereits einen Schlüssel haben für das Buch »Die Liebhaber meiner Mutter«, das als Roman daherkommt, aber in Wahrheit doch ein Erinnerungsbuch ist von einer Art, die Seltenheitswert besitzt.

Erinnern, das ist nun tatsächlich ein Wert von humanistischer Bedeutung, und was wir erinnern, ist es auch wert, erinnert zu werden. Was Ulrike Edschmid, die Autorin dieses Buches »Die Liebhaber meiner Mutter« betrifft, so sagt sie selbst, daß neben ihrer Mutter und den anderen Figuren dieses Buches die Landschaft die zweite Protagonistin darstellt. Was diese Landschaft, die hier erinnert wird, charakterisiert, das ist die mit ihr verbundene Lebensweise: weite Wege, die man gehen muß, um auch nur in den nächsten Dorfladen zu kommen; ein unbequemes Leben auf einer als sicherer Rückzugsort empfundenen Burg; und zugleich der freie Blick in die Weite bis hin zum Horizont - das sind die prägenden Eindrücke der Autorin in Kindheit und Jugend, die sich diesem Buch eingeschrieben haben und sich dem Leser mitteilen als poetische Seelenlandschaften, die man beim Lesen körperlich miterlebt, ohne jemals dort gewesen zu sein.

Die Frau, die in dieser Burglandschaft als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern lebt, wird in der Erinnerung ihrer Tochter so lebendig, als hätten wir sie persönlich gekannt. Dabei wird diese Mutter nicht erklärt:

"Ich wollte in Wahrnehmungen, Momentaufnahmen mitteilen. Jahrzehnte sind darüber hinweggegangen, vieles ist durch das Sieb der Zeit gefallen, nur die stärksten Erinnerungen sind übrig geblieben: wie meine Mutter die Ringe mit dem Schürhaken aus dem Herd nahm, dann die große Pfanne hineinsetzte und das Abendessen machte. Das sind Erinnerungen, in denen für mich eine ungeheure Geborgenheit liegt."

Hilfreich bei diesem Erinnern war offensichtlich ein Pappkarton mit Fotos ihres Vaters, der beim Rußlandfeldzug ums Leben kam, und die Befragungen ihrer Mutter zur Vergangenheit:

"Als sie sehr krank wurde, bin ich einen Monat lang jeden Tag zu ihr gefahren und habe sie ausgefragt. Ich wollte wissen, wer sie ist, jenseits der Tatsache, dass sie meine Mutter ist, wie sie gelebt hat, was sie empfunden hat. Ich habe vieles erfahren was ich nicht wußte - und oft habe ich beim Heimfahren geweint über das, was sie mir zum ersten Mal erzählt hat: Sie hat meinen Vater sehr geliebt. Aber sie war keine Frau, die sich als Kriegerwitwe grämt und sagt, es gab nur einen Mann und es wird nie wieder einen geben."



Ulrike Edschmid: Buchveröffentlichungen

Ich bin ein faules Lenchen. Du auch? Frauenoffensive, München 1977

Diesseits des Schreibtischs. Lebensgeschichten von Frauen schreibender Männer. Luchterhand Literaturverlag, 1990 (vergriffen)

Verletzte Grenzen. Lebensgeschichte von Monica Huchel und Lotte Fürnberg. Luchterhand Literaturverlag, 1992 (vergriffen)

Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten. (Erstmals 1996) Suhrkamp Verlag, 2001

"Wir wollen nicht mehr darüber reden". Erna Pinner und Kasimir Edschmid. Eine Geschichte in Briefen. Luchterhand Literaturverlag, 1999 (vergriffen)

Nach dem Gewitter. Erzählung. Suhrkamp Verlag, 2003

Die Liebhaber meiner Mutter. Roman. Insel Verlag, 2006

Das Verschwinden des Philip S. Roman. Suhrkamp Verlag, 2013



Ulrike Edschmid in Wikipedia:


https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrike_Edschmid

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