Und ewig nagt der Zahn der Zeit

Bilanz eines Ideenhistorikers: Kurt Flasch lakonisch und in Rage

In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. September 2003
 
"Philosophie hat keine Geschichte", heißt es an einer pointierten Stelle bei Gadamer, und Kurt Flasch nimmt diese Stelle beim Wort, um ihr ebenso pointiert die Formulierung für seine Antithese abzugewinnen: "Philosophie hat Geschichte" lautet der lapidare Titel seines neuen Buches, eine Art Summa seiner Methodologie, wie wir sie nicht nur aus Flaschs materialreichen Büchern über die Philosophie des Mittelalters kennen, sondern seit Jahren auch aus den lebhaften Buchrezensionen für das Feuilleton dieser Zeitung. Wenn Flasch sich hier als Ideenhistoriker näher erklären will, dann will er vor allem das eine erklären: daß es keine Einsicht gibt, der der Zahn der Zeit nichts anhaben könnte, keine Wahrheit, die nicht irgendwann alt aussieht. Deshalb ist, wer Philosophiehistorie betreibt, für Flasch kein Propädeutiker, sondern Philosoph im genuinen Sinne: einer, der beim Nachdenken nie vergißt, daß er Kind seiner Zeit ist und daß Kinder ihrer Zeiten stets auch jene Autoritäten sind, auf die man sich beruft. Für Flasch folgt daraus ein Doppeltes. Zum einen: Drum prüfe, bevor sich jemand ewig an einen Gedanken binde, ob er nicht noch einen anderen finde. Zum anderen: Drum traue keinem Gedanken ohne Zeitindex, nicht solchen Gedanken also, die so tun, als fielen sie vom Himmel, zeitüberlegen und mit sich identisch von Generation zu Generation.

Was Flasch hier ausficht, mal lakonisch, mal in Rage, immer aber mit der Verve seines feuilletonistischen Temperaments, ist zu anderen Zeiten unter sehr viel schwerfälligeren Überschriften verhandelt worden. Die Frage nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat im neunzehnten Jahrhundert die unterschiedlichsten Historismusdebatten ausgelöst, von der nahezu sämtliche geisteswissenschaftliche Disziplinen, von der Geschichte über die Philosophie bis zur Theologie, ergriffen wurden. Flasch hat all diese Debatten natürlich im Hinterkopf, er wird auch die neueren Wahrheitstheorien der analytischen Philosophie kennen, wenn er nun gleichwohl frisch wie beim ersten Morgentau die Frage nach Wahrheit und Geschichtlichkeit stellt. Es ist, als werde noch einmal der wuchtige Grundriß einer in der Zunft vielfach unübersichtlich gewordenen Theoriearchitektur vorgestellt.

Im Vorübergehen ist dieses Buch auch das Buch "Flasch antwortet seinen Kritikern" geworden, Kritiker, denen er wirklich nichts schenkt, wenn er sie nicht gar der näheren Auseinandersetzung offen für unwürdig befindet wie etwa Berthold Wald, den Herausgeber der Josef Pieper-Gesamtausgabe bei Meiner, welcher dem Thomas-kritischen Flasch einmal nonchalant unterstellt hatte, den Unterschied von Thomas von Aquin und dem Thomismus nicht zu kennen. Ohnehin hat man den Eindruck, daß die Münsteraner im allgemeinen und der Thomas-Exeget Pieper im besonderen für Flasch eine Art unsichtbare Generalfolie abgeben für die gewitzten Attacken, die er gegen eine uninspiriert radebrechende Schulphilosophie aller Zeiten und Orte reitet. Nun war es freilich gerade Pieper, der die Erkenntnistheorie des Thomas als eine skeptische herausarbeitete - und dies, sieht man recht, ebenso überzeugend wie originell. Aber die Blitze, die Flasch in den von ihm "westfälische Provinz" genannten Bezirk schleudert, bleiben doch erhellend im Sinne des Programms, das er in all seinen Texten mit gewinnender Unbeirrbarkeit verfolgt: die Geistesgeschichte gerade nicht entlang der eingespielten Konfliktlinien und Epochenzäsuren zu beobachten, sondern die angeblichen Kuriositäten der vermeintlichen Provinzen als nur zufällig marginalisierte Schauplätze der Ideenpolitik ins Licht zu tauchen.

Wenn sich Flasch bescheiden den altmodischen Titel "Ideenhistoriker" zulegt, dann müßte man ihn eigentlich bitten, höher zu rücken auf den Platz des "Wissenssoziologen". Denn aus der Vitrine dieser Disziplin nimmt er das Handwerkszeug, das er in seinem Buch liebevoll ausbreitet als "Hintergedanken eines Handwerkers in der Werkstatt der Intellectual History". Letzteres ein Begriff, dessen Gehalt Flasch in der Tautologie ausmacht: Intellektualität und Geschichtlichkeit wachsen auf ein und demselben Holze, ja sind recht eigentlich aus einem Holze.

Von einem wohlwollenden Kritiker befragt, welche Zeugen Flasch für seine Denkart eigentlich aufzubieten habe, nutzt der Autor sein Buch, um in der gelehrten Achse Frankfurt-Paris-Florenz eine Fülle von Namen als Dankesschuld abzutragen. Wie nebenbei und nur unter vielen anderen fällt der Name Foucault, doch wäre es für die Leser sicher reizvoll gewesen, hätte Flasch hier etwas ausführlicher dargelegt, wie Foucaults Archäologie des Wissens den Gestus seines eigenen "Mittelalter-Projekts" (Flasch) beeinflußt hat. Die Art, wie Foucault den Diskurs in der Positivität seines historischen Erscheinens untersucht, nach dessen Formation und Transformation fragt und dabei eine auch produktive, nicht bloß repressive Funktion der Macht unterstellt, welche die Wissensfelder konstituiert - das sind Motive, von denen Flasch in vielerlei Hinsicht nicht unberührt scheint und die sich in einer Frage Foucaults bündeln lassen, mit der dieser das Niveau seiner Diskursanalyse bestimmte: "Wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?"

So lautet präzise die Frage, die Flasch beschäftigt und die ihm in ähnlicher Weise wie Foucault regelmäßig den Reduktionismusvorwuf einträgt. Flasch zieht gegen diesen Vorwurf in seinem Buch behende zu Felde. In der Tat kann es nicht darum gehen, dem Wissenssoziologen, der sich der Wahrheitsfrage enthält, eine Reduktion von Wissen auf Machteffekte anzulasten. Die Existenz diskursiver Ordnungen ist nun einmal nicht allein mit der Strahlkraft des rohen Seins verständlich zu machen. Da will die Macht zur Steuerung diskursiver Strategien ebenso berücksichtigt werden. Ein Faktor, dessen Beschreibung wiederum nicht mit einer Philosophie der Wahrheit zur Deckung gebracht werden kann und insoweit auch über den Vorwurf des Reduktionismus erhaben ist.

Foucault hat zudem ein Problem bei den Hörnern gefaßt, das die methodologischen Überlegungen Flaschs wie ein roter Faden durchzieht. Es geht um die Frage, inwieweit das Erscheinen einer Aussage als Anwendungsfall einer diskursiven Ordnung - sei es abweichend oder affirmativ zu dieser Ordnung - immer auch singuläres Ereignis ist. Bei Flasch wächst daraus das Paradox, einerseits gegen vereinheitlichende Raster wie "Epoche" zu polemisieren, andererseits derartige historische Kategorien doch zu benötigen, wenn es darum geht, ein Ereignis, einen Gedanken in seinen Zeitbezügen kenntlich zu machen. Denn wie soll jemand das Zeittypische einer vergangenen Singularität ausfindig machen, wenn einer Zeittypik angeblich gar kein Realitätsgehalt entspricht, wenn sie nur ein die Einsicht ins Singuläre blockierendes Phantasma ist? Hier führt Flasch in Aporien des Historismus hinein, die noch Goethe dadurch zu vermeiden suchte, daß er in "Dichtung und Wahrheit" das Primat der "Zeitverhältnisse" erklärte, "dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein".

Doch liegen die Dinge wirklich so eindeutig? Flasch bleibt da auf sympathische Weise unentschieden. Er hält es schon für einen Gewinn, die eigene intellektuelle Entwicklung "vom Zu-Stand in einen Gegen-Stand" zu überführen, sich in seinen Ansichten also zunehmend gegenübertreten zu können. So hätte man vielleicht nicht in der Hand, was die Zeit mit einem macht, aber immerhin im Kopf. Auch hierin spricht aus Flasch Foucault, dem es darum ging "zu wissen, in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit es ihm ermöglichen kann, anders zu denken".

Kann sich das Denken von dem lösen, was es im Stillen denkt? Wie kommt es los von sich, während es versucht, ein anderes zu werden? Ist das nicht die Frage, die aus jeder Seite dieses Buches spricht? An einer Stelle schreibt Flasch, früher sei für ihn die Unsterblichkeit der Seele eine Frage gewesen, jetzt nicht mehr. Es führt nicht aus, warum dies so ist, er sagt auch nicht, zu welchem Ergebnis er in dieser stillen Frage gekommen ist. Er legt lediglich nahe, daß ein Ablauf von Zeit dafür gesorgt hat, daß aus dem Zu-Stand der Frage ein Gegen-Stand wurde. Und doch läßt Flasch keinen Zweifel, daß das Experiment, seine eigene Geschichte zu denken, auch mit diesem Buch nicht abgegolten ist. In zwei Jahren soll der Folgeband erscheinen. Und selbst danach - so ist für uns Leser zu hoffen - wird sich Flaschs Denken nicht lösen können von dem, was es im stillen denkt.

Christian Geyer


Seite drucken Suche