Theaterkritik: "züritip" 31.5.1996
- Klaus Henner Russius »Das Nibelungenlied«

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"züritip", 31. Mai 1996 von Rea Brändle

»Den Wahnsinn der Welt beschreiben«

Daß der Schauspieler Klaus Henner Russius Herausforderungen sucht hat er mit seinem Kleist-Experiment bewiesen: Auf einem Stuhl sitzend, spielte er die Geschichte des Michael Kohlhaas. Nun geht er viel weiter und will uns das Nibelungenlied erzählen, stark gekürzt zwar, aber in der ganzen Tragweite.

Nein, das Nibelungenlied will er auf keinen Fall als eine deutsche Geschichte begreifen. Wohl haben die Romantik und später die Nationalsozialisten versucht, das mittelalterliche Heldenepos zu germanisieren, doch gelungen sei das nicht, sagt Klaus Henner Russius, und die Genugtuung darüber ist ihm anzusehen. Für ihn

ist die Nibelungendichtung ein Stück Weltliteratur und, rein inhaltlich, eine Tragödie von europäischem Ausmaß: die Geschichte vom Untergang zweier Völker, der Burgunder und der Hunnen, und neben den mörderischen Konflikten fand er im Epos wahnsinnig-faszinierende Figuren, Kriemhild vor allem. Auf ihre Rache ist der anderthalbstündige Theaterabend zugeschnitten.

Rund 18 Stunden würde die Aufführung dauern, wollte Russius das ganze Nibelungenlied mit seinen 2382 Versen vortragen. Notgedrungen hat er rabiat gekürzt, rund neun Zehntel des Textes, doch von Ausschnitten oder Fragmenten gar kann nicht die Rede sein. Der Schauspieler will die Geschichte in ihrer ganzen Spannweite erzählen, mit eigenen Zusammenfassungen, Zwischentexten und auch mit Kommentaren, wo ihm das nötig scheint.

Auf die spezielle Kunst des Geschichtenerzählens ist der vielbeschäftigte Russius förmlich gestoßen worden. Der kantonale Theaterbeauftragte Franco Sonanini hatte ihm vor ein paar Jahren von einem verrückten Italiener erzählt, der seinem Publikum im Alleingang die Geschichte des Michael Kohlhaas zumutet, und nachdem Russius die Produktion des Kleistomanen Marco Baliani gesehen hatte, wollte er das auch versuchen. Ohne ins Kopieren zu geraten freilich, den eigenen Fähigkeiten vertrauend und mit Hilfe des Regisseurs Enzo Scanzi, wählte er einen sehr sachlichen Grundton, ruhig-rapportierend, mit viel Distanz, um dann um so wirksamer feine Akzente zu setzen: mit nuancierten Stimmvariationen, rhythmischen Einsprengseln, knappen Bewegungen - oft sind es nur die Fingerspitzen -, mit ironischen Anspielungen und einem unbeschreiblich-beweglichen Gesicht. Und das genügt wundersamerweise, um der heutzutage schwer zugänglichen Sprache Kleists die nötige Luzidität zu verleihen.

Das Berufsrisiko ausreizen

Über fünfzigmal hat Klaus Henner Russius seinen Michael Kohlhaas bisher aufgeführt, und er könnte ihn noch weit öfter spielen, davon leben sogar. Genau das aber will er nicht. Das Geschichtenerzählen soll keine Routinesache werden, und zudem braucht er, als freischaffender Schauspieler zumal, immer wieder die Auseinandersetzung im Ensemble. Konkret sind das Stückverträge in Düsseldorf, Frankfurt, Bonn und Heidelberg, vor allem aber das Engagement im freien Vaudeville-Theater, in Hauptrollen oft der politischen Stücke von Urs Widmer. Da habe sich eine Zusammenarbeit herausgebildet, die ihm in den vergangenen zehn Jahren "zu einer Art Heimat wurde". Er braucht diese Worte zurückhaltend, als scheute er den falschen Klang. Ja, sagt er, die Schweiz sei zu seinem Aktionsfeld geworden im Laufe von 30 Jahren, seit den schauspielerischen Anfängen in Basel während der Ära Düggelin, dem Vertrag am Neumarkt-Theater unter Luis Bolliger und einem zweiten Abstecher ans Basler Theater.

Seit elf Jahren nun ist er Freiberufler, gut ausgelastet, wie er erwähnt, und mit unbändiger Lust auf Herausforderungen. Seit einiger Zeit schon trug er sich mit dem Gedanken, das Kleist-Experiment weiterzuentwickeln und es, warum nicht, auf die Spitze zu treiben. Denn was ihn an der Geschichte des Michael Kohlhaas fasziniert, ist in einem Satz erklärt: "Kleist beschreibt den Wahnsinn der Welt". Die Suche nach dem Stoff für ein Folgeprojekt war entsprechend schwierig. Nicht daß es ihm an Vorschlägen gemangelt hätte. Doch sie muteten, gemessen an Kleist, geradezu harmlos an. So erinnerte er sich an seine eingestrichene Nibelungen-Fassung, für eine Lesung zusammengestellt einst. Er lernte sie auswendig, und nach einem gelungenen Probelauf im Freundeskreis entschloß er sich, das Risiko voll einzugehen, zusammen mit Regisseur Scanzi wieder.

Und das Vorbild Marco Baliani, ja, man sei in Kontakt geblieben. Der Italiener habe ihm zur Kohlhaas-Premiere ein Telegramm geschickt, sei aber verhindert gewesen. Die Begeisterung in seiner Stimme verrät, daß Klaus Henner Russius sein Berufsrisiko noch längst nicht ausgereizt hat.

Rea Brändle

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