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Mira Maase:
In sogenannten Zwischenzeiten, wie wir sie heute wieder erleben, tut die Rückbesinnung auf Philosophen gut, die über ihre Zeit hinaus aktuell geblieben sind. Platon und Sokrates sind hier zu nennen, Voltaire und Thoreau, Emerson und Montaigne. Wenn wir uns heute abend ausführlich mit Montaigne beschäftigen, können wir uns jetzt schon freuen auf den Vortrag des Berliner Essayisten Mathias Greffrath über die Frage "Warum Montaigne heute?". Ich will ihm nicht vorgreifen und beschränke mich deshalb auf den Hinweis, daß der Philosoph Montaigne seine Legitimation für Leben und Werk daraus ableitete, daß er vom innersten Gesetz sprach, das er in sich spürte und dem er gehorchte. Wir können vermuten, daß es sich bei diesem innersten Gesetz um nichts anderes gehandelt hat als um das Gewissen - eine in unserer heutigen Zeit so altmodisch klingende Instanz, die von der kapitalistischen Massengesellschaft scheinbar völlig außer Kraft gesetzt worden ist. Von Montaigne lernen heißt also, lieber Mathias Greffrath, lernen, wie man mit dem Gewissen standhält, oder?
Mathias Greffrath:
"Gegen die Charaktermaske, gegen die 'Individualisierung', die auf der freien Wahl im Quelle-Katalog ruht, gegen die globale Flexibilität, die aus der Not des Zufalls und Geworfenwerdens eine Apotheose der neuen Freiheit destilliert, gegen die Selbstverdinglichung des Menschen zum Unternehmer des eignen 'Humankapitals' besteht Montaigne stoisch auf einem beschränkten, an Herkunft und primäre Gefühle gebundenen Selbstgefühl, ohne das man immer dünner wird im Taumel des Virtuellen. Schmiedet Eure Seelen, rät er, statt sie mit immer neuem Kram aus dem Katalog der Möglichkeiten zu möblieren und immer weiter zu beschleunigen. Man muß sich eine gehörige Portion Einfachheit bewahren, um menschlich zu bleiben - schreibt George Orwell vierhundert Jahre später -, um etwas anderes aus sich zu machen als eine Collage aus all den Identitätsangeboten, für die die Seifenopern die Wörter und die Textilindustrie die Verpackung liefern. Angesichts der rasenden Begierde nach der Optimierung des Lebens, die mit der Medizin seiner Zeit begann, rät Montaigne; 'seinem Gehirn ein Klistier zu verschreiben' - um ruhig zu werden und dann dahin zu rollen, wo die eigene Neigung hinwill."
Aus dem Buch »Montaigne heute« S. 16./17
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