Der Zeitgenosse - Philosophie

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In dieser Rubrik wollen wir philosophische Begriffe klären, die verschwommen gebraucht und in den Lexika falsch oder gar nicht definiert werden.

Dabei geht der Autor von zwei Grundthesen aus:
1) Die Philosophie braucht eine Unterfütterung durch Psychologie und Ökonomie, damit sie sich nicht im geschichtslosen Raum der bloßen Spekulation verliert.
2) Die Wissenschaft braucht zu ihrer Legitimation eine philosophische Begründung, damit sie nicht zum relativen Nihilismus verkommt, der behauptet, alles Machbare sei gut.

Unsere Definitionen sind als Vorschläge zu verstehen zur Verbesserung von Kommunikation und Sprachkultur.


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Lebensqualität
Spiritualität
Magie


Lebensqualität (engl. quality of life)

1. Ende der 60er Jahre des XX. Jh. aus den USA übernommener Gegenbegriff zu Lebensstandard.

2. Als politisches Schlagwort entstanden, mit dem die Forderung nach einer qualitativen Bestimmung des Wirtschaftswachstums durch Sozialindikatoren erhoben wurde, entwickelte sich L. zu einem uneingelösten Begriff der politischen Philosophie.

3. Philosophisch definiert sich L. durch den Seins-Modus im Sinne von Erich Fromm - im Ggs. zum Haben-Modus des quantitativ meßbaren Lebensstandards. (Erich Fromm, Haben oder Sein, dt. 1976)

4. Kriterien der L. sind demnach Gesundheit, Kultur, Bildung, Identität, Kreativität, Vernunft und Menschenwürde - und zwar als Fähigkeit sowohl wie als Möglichkeit, diese Fähigkeit zu verwirklichen.

5. Der Gedanke der Lebensqualität ist nicht neu, wurde aber bis zum Aufkommen des Begriffs eines statistisch meßbaren Lebensstandards in unterschiedlichen Lebens- und Daseinsphilosophien versteckt. Auch bei Fromm taucht der Begriff L. noch nicht ausdrücklich auf - ebenso wenig wie etwa bei Alfred Adler (z.B. Der Sinn des Lebens, 1933), Viktor Frankl (Trotzdem ja zum Leben sagen, 1977) oder Frédérick Leboyer (Geburt ohne Gewalt, dt. 1974).

6. Auch wenn der Begriff L. im Zuge der kapitalistischen Entwicklung vom bloßen Wirtschafts- zum allumfassenden Gesellschaftssystem durch Instrumentalisierung und inflationäre Verwendung für ideologische Zwecke mißbraucht und verwässert wird, dürfte doch klar sein, daß ein 100jähriger Bewohner der japanischen Yonaguni-Inseln, der nicht im Wohlstand lebt, aufgrund seiner natürlicheren Lebensweise höhere Lebensqualität besitzt als ein 50jähriger Millionär in Europa, der gerade seine vierte Bypass-Operation hinter sich hat.

7. Lebensqualität ist der Geist des Zen. Das bedeutet nicht, daß es sich um den Geist reiner Innerlichkeit handelt. Im Gegenteil: Vitalität ist der Schlüssel zur Lebensqualität, wie sich leicht an einigen Persönlichkeiten der westlichen Welt festmachen läßt, die mit ihrem Werk Lebensqualität zum Ausdruck gebracht haben:

- in der Erzählkunst: Henry Miller, Felicitas Hoppe, Tucholsky

- in der Malerei: Picasso, Van Gogh, Grieshaber, Willand

- in der Musik: Rossini, Bach, Lyonel Hampton, Duke Ellington, Art Blakey,
  Evelyn Glennie

© 2005 Hans Werner Saß


Internet Webseite von Detlef Willand

Diskussionsbeiträge zum Begriff Lebensqualität in unserem Gästebuch:

Hans-Peter Mundt am 28.10.2004
H.W.S. am 30.10.2004


Spiritualität (von lat. spiritus = Geist)

1. Geisteshaltung, die nach dem Wesen der Erscheinungen sucht. Da die Dinge, die wir in der Realität wahrnehmen, zumeist ein verborgenes Wesen haben, muß der Mensch, der etwas über sie erfahren will, sein Sensorium auf eine metaphysische Ebene einstellen.

2. "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" (Gertrude Stein): daß dieser Satz wahr ist, leuchtet jedem unmittelbar ein; denn bei der Rose sind Wesen und Erscheinung identisch. Wie ist es aber beim Menschen? Wie weit reicht die Menscnenkenntnis in Bezug auf die eigene Person aus, um das widersprüchliche Geschehen auf der seelischen Ebene zu verstehen?

3. Der spirituelle Mensch ist eigentlich immer auf der Suche nach sich selbst. Spiritualität läßt sich deshalb definieren als Wahrheitsliebe. Ohne Liebe zur Wahrheit keine Selbsterkenntnis. Über die Liebe zur Wahrheit findet der Mensch zu sich selbst.

4. Der Gottsucher ist nicht spirituell, sondern religiös. Für ihn steht die Wahrheit, die er zu finden hofft, bereits fest. Geistliche Musik ist eben deshalb ein Sonderfall der Musik, weil sie religiösen Zwecken dient. Dagegen versucht der spirituelle Mensch zwar auch die Tatsachenebene seines Alltagslebens zu transzendieren. Aber er weiß nicht, wohin er dabei kommt.

5. Spiritualität ist also der Wille zur Transzendenz. Da sie "schräg" zur Normalität steht, kann sie dem Normalmenschen, der an seine materiellen Interessen gebunden bleibt, schon "verrückt" vorkommen. "Wer, wenn er normal und bei Verstand ist, geht schon auf einem Seil oder drückt sich in Versen aus?" fragte der Dichter Jean Genet. Und trotzdem werden Gedichte geschrieben - und gelesen.

6. Spiritualität ist der zentrale Begriff, auf den das Werk von Platon (427-347 v.Chr.) ebenso gebracht werden kann wie das Werk von Laotse, der im 4. oder 3. Jh.v.Chr. gelebt und gelehrt haben soll. In unserer Zeit finden wir ihre Geisteshaltung am ausgeprägtesten bei den Künstlern und Schriftstellern der Moderne. In den ausdrucksstarken Porträts von Alexej Jawlensky (1864-1941) finden wir nicht mehr die individuellen Züge des sichtbaren äußeren Menschen, sondern das unsichtbare Wesen des spirituellen Menschen dargestellt. Auch in der Kunst von Paul Klee (1879-1940) geht es ganz entschieden darum, das "Unsichtbare" sichtbar zu machen. Schließlich sprach der Dichter Günter Eich (1907-1972) davon, daß Gedichte aus einer Wirklichkeit übersetzen, in der Wort und Ding noch zusammenfallen: "Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben." Und: "In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf festem Boden." Einfacher hat es Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) gesagt: "Man sieht nur mit dem Herzen gut." Und: "Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."

7. Der Begriff der Spiritualität steht und fällt natürlich mit dem Menschenbild des Humanismus, für den der Mensch eine Einheit ist aus Körper, Geist und Seele. Wenn das VLB, das Verzeichnis lieferbarer Bücher, unter dem Stichwort Spiritualität mehr als 400 Einträge aufzählt, so liegt das an der Verschwommenheit und Beliebigkeit im Gebrauch eines leider heruntergekommenen philosophischen Begriffs, der nichts mit Religion, Mystik, Esoterik, Theologie oder Ratgeberliteratur zu tun hat.

8. Literatur-Auswahl zum Spiritualitätsbegriff:

- Richard Bach, Die Möwe Jonathan (dt. 1972)
- Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst (1960)
- Günter Eich, Fünfzehn Hörspiele (1964)
- Holger Franke, Mensch Herrmann (Theaterstück 1988)
- Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (1960)
- Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1912)
- Paul Klee, Tagebücher 1898-1918 (1957)
- Mozart/Schikaneder, Die Zauberflöte (Oper, 1791)
- Antoine des Saint-Exupéry, Der kleine Prinz (1943, dt. 1950)
- Antoni Tàpies, Kunst und Spiritualität (dt. 1993)

© 2005 Hans Werner Saß


Magie (Wortherkunft persisch / griechisch / lateinisch)

1. In den einschlägigen Lexika fälschlicherweise als Zauberei = "Beschwörung übernatürlicher Kräfte" bezeichnet, die durch rituelle Handlungen gefügig gemacht werden sollen. Durch Amulette, Talismane, Fetische u.a. magisch aufgeladene Gegenstände sollen Menschen angeblich "auf übernatürliche Weise" beeinflußt werden. Da solche magischen Praktiken dem heutigen naturwissenschaftlich-rationalistischen Weltbild widersprechen, werden sie zugleich in den Bereich des Aberglaubens verwiesen.

2. Das Wort "übernatürlich" ist natürlich Unsinn. Tatsächlich ist mit dem Begriff Magie das Grundgesetz der Natur bezeichnet, das alle anderen Naturgesetze beherrscht. Es handelt sich um das Gesetz von Anziehung und Abstoßung, das in vier Modalitäten in Erscheinung tritt: 1) Gegensätze ziehen sich an; 2) Gegensätze stoßen sich ab; 3) Gleiches und Gleiches zieht sich an; 4) Gleiches und Gleiches stößt sich ab.

3. Damit ist zugleich die magische Zahl vier als ein Modus vivendi in der Natur angeschlagen: Die vier Elemente; die vier Jahreszeiten; die vier Temperamente; die vier Himmelsrichtungen etc. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die vier Triebe, die der Mensch in seiner Natur zu meistern hat:
1) Machttrieb, 2) Spieltrieb, 3) Sexualtrieb, 4) Todestrieb.

4. Im Menschen sind diese vier Triebe polarisiert: Der Machttrieb hat den Spieltrieb zum Gegenpol, der Sexualtrieb den Todestrieb. Die Gegensätze, die hier als Polaritäten gefaßt sind, bilden seine Triebstruktur. In diese Triebstruktur greift der Mensch mit seinem Willen oft so ein, daß die Polaritäten empfindlich gestört werden: Der Machttrieb wird zum Willen zur Macht und dominiert den Spieltrieb, oder der Spieltrieb wird so übermächtig, daß der Mensch zum ohnmächtigen Objekt seiner Spielsucht wird. Ebenso kann sich der Todestrieb als Sucht mit der perversen Lust am Untergang manifestieren und den Sexualtrieb dominieren.

5. Zur Erklärung sei darauf verwiesen, daß der Mensch als Kind noch ganz Naturwesen ist und damit als Individuum wiederholen muß, was die erwachsene Menschheit stammesgeschichtlich bereits hinter sich hat. Die sogenannte magische Phase ist eine Entwicklungsstufe, die von der Säuglingszeit bis etwa zur Vollendung des 6. Lebensjahres reicht und schließlich von der Phase des kognitiven Lernens abgelöst wird.

6. Zeichnet sich die magische Phase besonders durch Wunschphantasien und Emotionalität aus, so ist die kognitive Phase der Verstandesentwicklung gewidmet. Realitätsbewußtsein und Urteilsvermögen wachsen unter dem Erziehungsdruck der Erwachsenenwelt zum gesunden Menschenverstand heran. Aus dem kindlichen Naturwesen wird mit zunehmender Reife ein Kulturmensch.

7. Die Überzivilisiertheit des reinen Verstandesmenschen beruht allerdings auf einer starken Verdrängungsleistung. Da man ihm als Schulkind das magische Denken ausgetrieben hat, hat er es tief in sein Unterbewußtsein verdrängt. Nun kehrt es als Zwangshandlung, als Aberglauben, als Selbstzweifel, als peinliche Irrationalität an die Oberfläche seines Bewußtseins zurück und greift störend in sein Leben ein.

8. Der Mensch drückt seine Leiblichkeit, seine Geschlechtlichkeit, seine Sinnlichkeit in magischen Bildern, Wörtern und Rhythmen aus. Tatsächlich existiert die magische Welt der Kindheit auch in der Verdrängung weiter. Aber in der Realität des kapitalistischen Gesellschaftssystems und der damit einhergehenden Selbstentfremdung ist offensichtlich nur noch der künstlerische Mensch in der Lage, die magische Welt der Kindheit in eine schöpferische Kulturleistung zu verwandeln.

9. Das Leben ist weder rational noch irrational, weder vernünftig noch unvernünftig (es ist natürlich). Der einseitig entwickelte Verstandesmensch betrachtet seinen Körper aber nur noch als nötigen Anhang seines Großhirns, der roboterhaft zu funktionieren hat. Er weiß nichts von den Lebensprozessen im Leibesinneren, die er nicht mehr fühlt, und den Gesetzmäßigkeiten, mit denen sie sich abspielen. Er weiß nichts davon, daß es die Magie ist, die den genetischen Code als Bauplan seines Leibes geschaffen hat und diesen gesetzmäßig aus einer befruchteten Eizelle seiner Mutter hervorgehen ließ. Daß der monatliche Zyklus der Frau, der ihm dunkel und unheimlich genug erscheint, biologischer Ausdruck ist eines magischen Zusammenhangs, in denen die Rhythmen der Natur einschließlich der noch unerforschten Mondphasen eine dominierende Rolle spielen, ist er gerade noch bereit, zuzugeben. Aber daß in seinem eigenen Körper die Zellen auf magische Weise miteinander kommunizieren, ist ihm so fremd, daß er diesen Tatbestand glatt in das Reich des Aberglaubens verweist. Damit leugnet er allerdings die Existenz des körperlichen Denkens, das die Grundlage aller Psychologie ist.

10. Daß das, was die vorsokratischen Denker der Antike als Psyche bezeichneten, tatsächlich als "Gemüt" bzw. als die magische Welt unseres Unterbewußtseins in den Körperzellen existiert, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jh. die Experimente und Psychotherapien mit den sogenannten psychodelischen Drogen (LSD, Mescalin) bewiesen. Auch der seit der Antike immer wieder überlieferte Traum folgt dem Grundmuster der Magie, mittels derer der träumende Mensch in filmische Abläufe verwickelt wird, deren Protagonist er ist. Mit Hilfe der DNS und RNS seiner Körperzellen muß er sich durch etwas durcharbeiten, was schon früh einen Denker feststellen ließ: "Auch die Schlafenden leisten Arbeit und wirken mit an dem, was im Weltall geschieht."

11. Der eigentliche Aberglaube ist jener, der die Magie zum Aberglauben erklärt. Die Kenntnis der Magie und ihrer praktischen Anwendung ist uralt. Die Ethnologin Margarethe Ruff (2003): "Magische Texte reichen bis ins 26. vorchristliche Jahrhundert zurück. Die antike mediterrane Welt erhielt Kenntnis über Magie durch griechisch schreibende Gelehrte aus Babylonien. Schon in der hellenistischen Zeit hatte die Magie eine soziale Funktion als Mittel der Krisenbewältigung im Alltag. Sie bildete mit dem religiösen Kult eine Einheit. Auch Christus wurde von den Zeitgenossen als Magier bezeichnet."

12. Das ganzheitliche Menschenbild vermittelt uns mit dem Begriff Magie eine Vorstellung davon, wie die Bausteine des Lebens beschaffen sind, mit denen der Mensch ausgestattet ist, um auf seine Umwelt zu wirken. Damit ist nun nicht mehr allein die magische Wirkung bezeichnet, die wir Künstlern, Schauspielern, Dichtern und Stimmvirtuosen ganz selbstverständlich zusprechen; sondern darüber hinaus die Ausstrahlung von Menschen, denen es gelingt, eine schlechte Laune in eine gute Laune zu transformieren: Die Stimmung verwandelt sich von einer negativen Frequenz in eine positive Frequenz, und das hat Folgen für die energetische Beschaffenheit ganzer Lebenswelten. Vielleicht ist der Begriff Magie der einzige philosophische Begriff, der so stark mit Psychologie und Physiologie unterfüttert ist; und zugleich bildet er das Bindeglied zu einer aufgeklärten Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen. Freilich kann dieser Artikel nicht enden ohne den Hinweis darauf, daß es vor allem die christlichen Kirchen gewesen sind, die jahrhundertelang das Wissen der Völker über die magischen Zusammenhänge als heidnischen Aberglauben unterdrückt und verdammt haben - was sie nicht daran gehindert hat, unter der Bezeichnung des religiösen Sakramentes selber magische Rituale in ihren Dienst zu stellen. Was ist die weihevolle Handlung, bei der ein Priester die "Wandlung" einer Hostie in den symbolischen Leib Christi vollzieht, anderes als Magie? Was ist das Gebet der Gläubigen anderes als eine magische Beschwörung?

© 2005 Hans Werner Saß


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