Sibylle Lewitscharoff


Do. 22. März 2012
20.00 Uhr

"Im Zeichen des Löwen"

Sibylle Lewitscharoff (Berlin)
liest aus ihrem Roman »Blumenberg«

Dichterlesung und Gespräch mit der Autorin


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Buchcover: Sibylle Lewitscharoff "Blumenberg"

Es ist schon etwas Nicht-Alltägliches, wenn im Studierzimmer eines Münsteraner Philosophieprofessors des Nachts ein Löwe erscheint, sich auf dem Teppich niederläßt und ihn von nun an, für andere unsichtbar, auf Schritt und Tritt begleitet. Der Löwe ist natürlich nicht von dieser Welt. Und die Studenten, die diese Symbolfigur nicht sehen können, verstehen im Hörsaal natürlich nichts von der Mehrdimensionalität, in die ihr geliebter Professor sie einführen will. Als Trostbedürftige in dieser Welt scheitern sie alle, weil sie sich verhalten wie die Menschen in Platons Höhlengleichnis: Sie halten die sichtbaren Erscheinungen für Realität und sind blind für das Wesen und Wirken einer unsichtbaren Welt. Wie Ijoma Mangold in der ZEIT geschrieben hat: "Am Ende handelt dieser Roman mehr als von Blumenberg von Sibylle Lewitscharoffs Versuch, die Literatur als ein Medium metaphysischer Fragen auszutesten."

Der ungewöhnliche Roman steht also gegen die Plattheit und Banalität der heutigen "Gegenwartsliteratur" mit ihrer provinziellen Pseudoproblematik von Kindheit, Jugend und Familie.

Das Buch war im Oktober 2011 unser Buch des Monats. Wir freuen uns, daß wir die Autorin für eine Lesung mit Diskussion gewinnen konnten.


Veranstaltung am 22.3.2012 - Sibylle Lewitscharoff

Veranstaltung am 22.3.2012 - Sibylle Lewitscharoff und Mira Maase

Veranstaltung am 22.3.2012 - Sibylle Lewitscharoff

Veranstaltung am 22.3.2012 - Sibylle Lewitscharoff

Fotos: © Peter Worm


Aus der Einführung von Mira Maase:

Schön, daß Sie heute abend so zahlreich erschienen sind, um einem interessanten Zusammenstoß zwischen einem Vertreter der rationalistischen akademischen Philosophie und einer poetischen Interpretation aus metaphysischer Sicht beizuwohnen. Sibylle Lewitscharoff schreibt: "Meine Liebe zur Philosophie bleibt leider unerwidert. So sehr ich gern mehr von ihr verstünde und so eifrig ich philosophische Werke studiert habe, wenig davon hat sich mir eingeprägt. Dagegen ruft das Gedächtnis manch einen Roman glühend zurück, den ich vor dreißig Jahren gelesen habe."

Kurz gesagt, mit der Neuzeit ging auch die Bildhaftigkeit der akademischen Philosophen verloren, und es wird Zeit, ihnen wieder das metaphysische Bad der Poesie anzutun, das bei Ernst Bloch und Jean-Paul Sartre immer noch vorhanden ist, aber bei Blumenberg eben nicht. Sibylle Lewitscharoff: "Wenn sich die Menschen gegen die Zumutung der Wirklichkeit nicht mehr mithilfe von Mythos und Religion wehren können, wenn sie die Wunschherrschaften des Imaginären fahren lassen und sich wechselweise auf das Knochengebirg des Realismus verpflichten, werden sie trostunfähig. Trostbedürftig sind sie zwar wie eh und je, aber unfähig, den Trost zu empfangen, unfähig, ihn zu spenden."

Wenn die Philosophie eines erklärten Agnostikers keinen Ausblick mehr hat auf Zukunft und Vergangenheit der Menschheitsgeschichte, kann sie nur noch trostlos sein. Blumenberg bleibt also einer der Trostlosen, auch wenn er sich mit metaphysischen Symbolfiguren beschäftigt und dabei ein ganzes Buch über den Löwen veröffentlicht hat, wobei ihm aber jedes dichterische Talent abzusprechen ist, um ihn etwa, wie Goethe es tat, als nicht verstandesbegabtes, aber vernunftbegabtes Lebewesen in die Menschheitsgeschichte einzuführen.

An dieser Stelle setzt nun unsere Autorin an. In ihrem Blumenberg-Roman tritt nun ein leibhaftiger Löwe auf und folgt ihm, für die Augen der anderen unsichtbar, von Wirkungsstätte zu Wirkungsstätte, denn "was wäre ein leibhaftiger Heiliger ohne Löwe?"


Do. 21. Januar 2010
20.00 Uhr
"Kinder! Kinder!"

Sibylle Lewitscharoff liest
aus ihrem neuen Roman »Apostoloff«

Dichterlesung und Gespräch mit der Autorin


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Buchcover: Apostoloff - Sibylle Lewitscharoff

Sibylle Lewitscharoff (Jg. 1954) gehört zu den wenigen Autorinnen der jüngeren Generation, die ernstgenommen werden können, weil sie etwas zu sagen haben. Für diesen "Anti-Familienroman" erhielt die Sprachkünstlerin 2009 den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse.

"Im Grunde bin ich gegenüber dem Autobiographischen äußerst skeptisch", sagt die Lewitscharoff. "Aber an seiner Familie, dieser einzigartigen Zwangsgemeinschaft, kommt ein Autor kaum vorbei. Ich habe mir zumindest Luft verschafft, indem ich mir eine fiktive Geschichte und fiktive Figuren hinzu ersonnen habe, die Vater, Mutter, Kind in ein anderes Tableau versetzen. Es ist schier unmöglich, die eigenen Eltern zu kennen. Es liegt in der Natur dieser eigenartigen Beziehung, daß man von den Eltern gedemütigt, geliebt, verlassen, gekränkt, geärgert oder schier um den Verstand gebracht wurde. Sobald man aber erinnernd nach ihnen greift, fliehen sie. Kurzum: Es ist auch immer falsch, was wir von ihnen denken. Um dieses Falsche, aber auch darum, es als falsch kenntlich zu machen, habe ich mich bemüht."


Aus der Einführung von Mira Maase:

"Du sollst Vater und Mutter ehren, damit es dir wohlergehe auf Erden" heißt es in der Bibel, ein patriarchalisches Gebot, mit dem nicht nur im Schwabenland der moralische Erziehungsanspruch der tüchtigen Kleinbürgerfamilie begründet wurde. Den elterlichen Rollen entsprachen die Familienrollen, in die die Kinder hineingepreßt wurden.

"Es ist die Familie, die zusammen leibt und lebt, bis daß der Tod sie scheidet bzw. bis sie uns entläßt in die knappe Freudlosigkeit der Epitaphe auf unseren christlichen Grabsteinen, erigiert, mangels irgendeiner anderen Erektion, von jenen, die um uns trauern auf höchst seltsame Weise, indem sie sich mühsam erinnern, daß sie uns mühsam vergessen. Diese falsche Trauer ist insofern gerecht und poetisch, als echte Trauer unmöglich ist, wenn die Menschen, die einander betrauern, nie einander begegnet sind."

Das ist nun kein Zitat aus dem Roman, den wir heute abend vorstellen wollen, sondern aus einem Klassiker der Familienanalyse mit dem Titel »Der Tod der Familie«, geschrieben von David Cooper, der sich selbst einen Anti-Psychiater nannte, erstmals erschienen 1971. Und David Cooper fuhr damals fort:

"Die Macht der Familie liegt in ihrer sozialen Mittlerfunktion. Sie untermauert die effektive Macht der herrschenden Klasse in jeder Ausbeutungsgesellschaft, indem sie für jede gesellschaftliche Institution eine äußerst kontrollierbare, paradigmatische Form liefert. So wiederholt sich die Familie ihrer Form nach in den Sozialstrukturen der Fabrik, der Gewerkschaft, der Volks- und Oberschule, der Universität, der Handelsgesellschaft, der Kirche, der politischen Parteien und des Regierungsapparats, der Streitkräfte der Krankenhäuser im allgemeinen und der Nervenkliniken im besonderen usw. Auf Schritt und Tritt begegnen wir in diesem Kontext den guten oder schlechten, den geliebten oder gehaßten 'Müttern' und 'Vätern', den älteren und jüngeren 'Brüdern' und 'Schwestern', den verstorbenen oder heimlich herrschenden 'Großeltern'."

Oder wie Marx es 100 Jahre vor David Cooper ganz präzise formulierte:
"Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alptraum auf dem Gehirne der Lebenden."

Sibylle Lewitscharoff am 21.1.2010 im Kulturzentrum - Apostoloff
Foto: © Hans-Peter Mundt

In dem jüngsten Roman von Sibylle Lewitscharoff findet sich eine hochkünstlerische Darstellung des langsam vor sich hinsterbenden Phänomens der bürgerlichen Kleinfamilie. Er beginnt mit dem ersten Satz: "Wir, sage ich zu meiner Schwester, sind noch gut davongekommen." Und er endet mit dem Worte "Haß":

"Die Toten warten auf ihre Stunde, sie kommen höchstselbst und nicht nur im tintigen Pfuhl des Nacht. Ich aber bewahre kühlen Mut. Immerhin habe ich es geschafft, länger zu leben als der Vater und ein freundlicheres Leben zu führen als die Mutter. Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Haß."

Dazwischen spielt sich eine Auseinandersetzung ab, die wie immer bei dieser Autorin originell und manchmal atemberaubend komisch ist. Daß sie mit ihrer Familiengeschichte, die den Mythos von der "glücklichen Familie" gründlich transformiert, ins Schwarze getroffen hat, beweist, daß sie für diesen Roman »Apostoloff« im vergangenen Jahr unter vielen Neuerscheinungen den Preis der Leipziger Buchmesse zugesprochen bekommen hat. Viel Vergnügen also bei dieser Lesung!


Do. 7. Dezember 2006
20.00 Uhr
"Traumdiener und Widersacher: Tote reden viel"

Sibylle Lewitscharoff (Berlin) stellt ihren
Roman »Consummatus« vor

Dichterlesung und Gespräch mit der Autorin


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Buchcover Sibylle Lewitscharoff »Consummatus«



Sibylle Lewitscharoff bringt Transzendenz und Zeitgeschichte zusammen. Bei ihr finden die Gespräche nicht nur zwischen Lebenden statt. In ihrem jüngsten Roman setzt sie eine Tradition fort, die mit Dichternamen wie Lukian, Wieland, Brecht, Kasack und Heiner Müller besetzt ist. Ihre Totengespräche zeigen abermals, was Literatur kann – ein kunstvolles Spiel mit der Sprache treiben: Aus der Schattenwelt eines Durchschnittsmenschen melden sich die Geister, von denen er nicht loskommt, und mischen sich vehement in sein Leben ein.

Sibylle Lewitscharoff, 2006 Kulturzentrum »Consummatus«

Aus der Einführung von Mira Maase

Man muß heute abend vielleicht mit Hermann Hesse beginnen. Hermann Hesse und sein Roman »Der Steppenwolf« von 1927 waren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland fast vergessen, da wurde er plötzlich posthum berühmt durch die amerikanische Hippie-Bewegung. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß es eine Popband namens »Steppenwolf« in Amerika gab, die von einem nach USA ausgewanderten jungen Deutschen gegründet worden war. Über die jungen Hippies in Amerika, ihr "Make love, not war", ihre Flower-Power-Attitüde und – Sie erinnern sich – ihre melancholischen Dichter, die ihre Gedichte als Songs auf der Gitarre vortrugen, wurden die Träume der westdeutschen Studentenbewegung wachgerufen und Hesses »Steppenwolf« erneut aktiviert. Die Rede ist von den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, und die Rede ist von einem Barden wie z.B. Bob Dylan.

In dem Roman, den wir heute vorstellen wollen, spielt auch er – zumindest unterschwellig – eine große Rolle, denn die Autorin Sibylle Lewitscharoff mischt die Zeilen eines berühmten Bob-Dylan-Songs, die "Desolation Row", geschickt mit Textzeilen der Matthäus-Passion:


Mira Maase, Veranstaltung: Sibylle Lewitscharoff »Consummatus«


          "... jede Schlittschuhlinie führte eine musikalische Zeile herauf,
          alle rechten Eiszüge entlehnten ihre Zeilen der Matthäuspassion,
          alle linken aus der Desolation Row – Lebet, lebet – And the only
          sound that's left – Ste–e–e–e–e–rbet – After the ambulances go –
          Ruhet hier – Is Cinderella sweeping up on Desolation Row – Ihr
          verlaßnen Küchlein ihr – Now the moon is almost hidden – Mache
          dich mein Herze rein – The stars are beginning to hide – Ich will
          Jesum selbst begraben – The fortunetelling lady – Denn es soll
          nunmehr in mir – Has even taken all her things inside – Seine süße
          Ruhe haben – All except for Cain and Abel – Für und für – and the
          hunchback of Notre Dame – Für und für – Everybody is making love –
          Seine süße Ruhe haben – Or else expecting rain – Welt, geh aus,
          laß Jesum ein –
"


Wir erinnern uns, als Sibylle Lewitscharoff am 17. Juni 2004 aus ihrem Erstling »Pong« las, fügte sie zu dieser "Pflichtübung" eine Kür hinzu, das war das Manuskript-Kapitel aus dem damals gerade entstehenden Roman »Consummatus«. Da sitzt ein schwäbischer Gymnasiallehrer mittleren Alters in einem Stuttgarter Damencafé bei Kaffee und Wodka und erzählt in einem langen Monolog die Geschichte, wie er seiner toten Geliebten ins Jenseits nachgefolgt und wieder zurückgekehrt ist. Dabei wird sein Monolog ständig unterbrochen von Geisterstimmen, die seinen Bericht ironisch kommentieren. Sie gehören zu unsichtbaren Gespenstern, die im Leben einmal prominent gewesen sind.

Wenn dieses Hin und Her zwischen Diesseits und Jenseits auch mehr oder weniger dem traditionellen Verständnis gerade eines evangelischen Christentums entspricht, so ist der eigentliche Zugang der Autorin im Grunde nicht die Religion, sondern die Dichtung gewesen. Ihr Ralph Zimmermann kennt das Jenseits hauptsächlich aus der Poesie und läßt sich von vielen Zitaten und Gedichtzeilen leiten, um in seinem eigenen Verständnis des sogenannten Totenreiches auch die Dichter wiederzutreffen, die er kennt.

Das Motiv ist nicht neu. In der Literaturgeschichte finden sich zum Beispiel noch die anonymen »Nachtwachen des Bonaventura« im 19. Jahrhundert, und im zwanzigsten kommen nicht sehr bekannt gewordene Romane wie »Die andere Seite« von Alfred Kubin und »Der Mann im Bahnwärterhaus« von Ernst Kreuder hinzu, in denen metaphysische Grenzüberschreitungen jenseits des Christentums dargestellt worden sind. Neu an diesem Roman »Consummatus« sind die Beschwörungen der Zeitgeschichte einer einstmals jung gewesenen Generation, die romantisch aus der eigenen Geschichte flüchtete und sich im romantischen Amerika widerspiegelte, sowie die Verschränkung dieser bürgerlichen Nachkriegsjugend in Westdeutschland mit dem Christus-Motiv, denn "Consummatus est" heißt auf deutsch "Es ist vollbracht". Das sollen die letzten Worte von Jesus am Kreuz gewesen sein.



Zuschauer - Sibylle Lewitscharoff, 2006 Kulturzentrum »Consummatus«
Fotos: © Peter Worm

Do. 17. Juni 2004
20.00 Uhr
Sibylle Lewitscharoff (Berlin) liest
aus ihrem Romanerstling »Pong«



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Buchcover Sibylle Lewitscharoff »Pong« Pong ist ein Geschöpf des Geistes. Ein "Verrückter", der die Normalität widerspiegelt wie Morgensterns Palmström. Ein erstaunlicher Text über die verkehrte Welt, in der wir alle leben müssen und in der, wie Claudia Kramatschek in ihrer SZ-Rezension treffend geschrieben hat, "das Geld zur Ikone und die Ratio zum Fetisch erhoben wurden". Die »Welt« schrieb: "Ein großartiges, fast gesungenes Sprach-Kunststück, eine beeindruckende Charakter- und Weltstudie, die vielleicht beste literarische Rekonstruktion eines ver-rückten Hirns überhaupt."


Sibylle Lewitscharoff, Veranstaltung "Pong"
Foto: © Peter Worm
Sibylle Lewitscharoff, eine der wenigen, die den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt zu Recht bekommen haben.

Rezension Rezension zu "Montgomery" im Deutschlandfunk am 23.3.2003

Biographie SIBYLLE LEWITSCHAROFF

wurde 1954 in Stuttgart geboren und lebt in Berlin. Sie hat neben Radiofeatures, Hörspielen, literarischen Essays und Erzählungen bisher vier Bücher veröffentlicht,

»36 Gerechte«, Münster: C. Steinrötter 1994
»Pong«, Berlin: Berlin Verlag 1998
»Der höfliche Harald«, Berlin: Berlin Verlag 1999
»Montgomery«, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 2003
»Consummatus«, München: Deutsche Verlagsanstalt 2006
»Apostoloff«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009
»Der Dichter als Kind«, Marbacher Magazin 128, Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar, 2009
»Blumenberg«, Berlin: Suhrkamp 2011

Für ihren ersten Roman »Pong« erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis.


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