Fotos: © Peter Worm
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Aus der Einführung von Mira Maase
"In der Existenzweise des Seins impliziert Erinnern, etwas ins Leben zurückzurufen, was man einmal gesehen oder gehört hat. Jeder kann diese produktive Art des Erinnerns vollziehen, wenn er versucht, sich den Anblick von Gesichtern und Landschaften ins Gedächtnis zu rufen, die er einmal gesehen hat. Das Gesicht oder die Landschaft taucht nicht sofort vor dem geistigen Auge auf. Es muß wiedererschaffen, zum Leben erweckt werden. Das ist nicht immer leicht. Voraussetzung ist, daß ich das Gesicht oder die Landschaft einmal mit genügender Konzentration betrachtet habe, um sie mir deutlich ins Gedächtnis rufen zu können. Wenn diese Art des Erinnerns voll gelingt, ist die Person, deren Gesicht ich mir ins Gedächtnis rufe, in voller Lebendigkeit präsent, die Landschaft so gegenwärtig, als habe man sie wirklich vor sich."
Was ich gerade vorgelesen habe, sind nicht meine Worte, sondern die Gedanken von Erich Fromm in seinem Buch »Haben oder Sein«. Ich stelle dieses Zitat an den Anfang meiner kurzen Einführung zu dem heutigen Abend, weil wir mit dem Stichwort "Erinnern" bereits einen Schlüssel haben für das Buch »Die Liebhaber meiner Mutter«, das als Roman daherkommt, aber in Wahrheit doch ein Erinnerungsbuch ist von einer Art, die Seltenheitswert besitzt.
Erinnern, das ist nun tatsächlich ein Wert von humanistischer Bedeutung, und was wir erinnern, ist es auch wert, erinnert zu werden. Was Ulrike Edschmid, die Autorin dieses Buches »Die Liebhaber meiner Mutter« betrifft, so sagt sie selbst, daß neben ihrer Mutter und den anderen Figuren dieses Buches die Landschaft die zweite Protagonistin darstellt. Was diese Landschaft, die hier erinnert wird, charakterisiert, das ist die mit ihr verbundene Lebensweise: weite Wege, die man gehen muß, um auch nur in den nächsten Dorfladen zu kommen; ein unbequemes Leben auf einer als sicherer Rückzugsort empfundenen Burg; und zugleich der freie Blick in die Weite bis hin zum Horizont - das sind die prägenden Eindrücke der Autorin in Kindheit und Jugend, die sich diesem Buch eingeschrieben haben und sich dem Leser mitteilen als poetische Seelenlandschaften, die man beim Lesen körperlich miterlebt, ohne jemals dort gewesen zu sein.
Die Frau, die in dieser Burglandschaft als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern lebt, wird in der Erinnerung ihrer Tochter so lebendig, als hätten wir sie persönlich gekannt. Dabei wird diese Mutter nicht erklärt:
"Ich wollte in Wahrnehmungen, Momentaufnahmen mitteilen. Jahrzehnte sind darüber hinweggegangen, vieles ist durch das Sieb der Zeit gefallen, nur die stärksten Erinnerungen sind übrig geblieben: wie meine Mutter die Ringe mit dem Schürhaken aus dem Herd nahm, dann die große Pfanne hineinsetzte und das Abendessen machte. Das sind Erinnerungen, in denen für mich eine ungeheure Geborgenheit liegt."
Hilfreich bei diesem Erinnern war offensichtlich ein Pappkarton mit Fotos ihres Vaters, der beim Rußlandfeldzug ums Leben kam, und die Befragungen ihrer Mutter zur Vergangenheit:
"Als sie sehr krank wurde, bin ich einen Monat lang jeden Tag zu ihr gefahren und habe sie ausgefragt. Ich wollte wissen, wer sie ist, jenseits der Tatsache, dass sie meine Mutter ist, wie sie gelebt hat, was sie empfunden hat. Ich habe vieles erfahren was ich nicht wußte - und oft habe ich beim Heimfahren geweint über das, was sie mir zum ersten Mal erzählt hat: Sie hat meinen Vater sehr geliebt. Aber sie war keine Frau, die sich als Kriegerwitwe grämt und sagt, es gab nur einen Mann und es wird nie wieder einen geben."
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