Biographie von Alexandra Kollontai

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Biographie von Alexandra Kollontai, Geschichte und Verhältnisse in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert

Im Dezember 1825, am Tag der Thronbesteigung von Zar Nikolaus I, gab es in St. Petersburg den nach dem Monat Dezember, auf russisch "Dekabr", genannten Dekabristen-Aufstand. Die Anführer waren liberale adlige Offiziere, die eine Verfassung für das Zarenreich erzwingen wollten. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, die Hauptanführer gehenkt, 33 Angehörige der oberen Dienstgrade wurden degradiert und lebenslänglich nach Sibirien verbannt, ihr Vermögen eingezogen. Viele der Dekabristen-Ehefrauen, ebenfalls von Adel, verzichteten auf ihre Privilegien und folgten freiwillig ihren Männern in die Verbannung und Unfreiheit. Sie gründeten in Sibirien Siedlungen, Krankenhäuser, Schulen und Bibliotheken und erreichten, dank ihrer Integrität sogar Erleichterungen für die Häftlinge von den Behörden. Russische Dichter, unter ihnen Puschkin, Nekrassow und Dostojewskij setzten in ihren Werken den Dekabristen und ihren opferbereiten Frauen ein Denkmal. Die nachfolgenden Generationen von Vorkämpfern und Vorkämpferinnen für einen liberalen Staat ebenso wie die Revolutionäre fühlten sich den Dekabristen verpflichtet. Zar Nikolaus I erfüllte die Forderung nach einer Verfassung nicht. Er regierte bis 1855 und perfektionierte den zaristischen Polizeistaat.

Sein Sohn, Alexander II, war anfangs das Gegenteil von ihm. Er war nicht von einem General, sondern von einem Humanisten erzogen worden und kannte die sozialen Probleme seines Volkes. Kurz nach seinem Regierungsantritt begnadigte er die überlebenden Dekabristen, lockerte die Zensur und führte eine Bildungsreform durch, die allerdings der gesellschaftlichen Entwicklung vorauseilte. 1856 wurden die Universitäten auch den Nichtadeligen allgemein zugänglich. Bereits 1858 studierte in St. Petersburg die erste Frau und wurde vom Direktor der Universität persönlich in der Jura-Vorlesung vorgestellt. Allerdings waren noch sehr lange Zeit Frauen nur als Gasthörer zugelassen, d.h. sie konnten kein allgemein anerkanntes Examen ablegen. 1861 hob Zar Alexander II die Leibeigenschaft auf. Außerdem führte er eine Rechts- und Verwaltungsreform durch. In der Praxis wurden jedoch seine Reformen verwässert und ihre Konsequenzen eingeschränkt. Dies geschah sowohl durch die Bürokratie, als auch durch die Kirche und die Großgrundbesitzer. Dadurch entstand Unzufriedenheit bei der russischen Intelligentia, aber auch im Volk, dessen soziale Probleme durch die fortschreitende Industrialisierung zugenommen hatten. Eine Verfassung, die dem Volk Mitspracherechte in der Regierung garantierte, ließ aber auch Alexander II nicht zu. Erst 1905, als es für diese Art von Staatsreform schon zu spät war, wurde Rußland, auf Druck des Volkes, durch eine Verfassung von der absoluten Monarchie in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt.

In der Zeit der halbherzigen Reformen und der zunehmenden oppositionellen Gruppen wurde 1872 Alexandra Domontowitsch als Tochter eines hohen adligen Militärbeamten in St. Petersburg geboren. Sie wuchs in einer liberalen und kulturell-progressiven Familie auf. Ihre Schulausbildung bestand ausschließlich aus Privatunterricht, um sie vor dem "verderblichen Einfluß der Umwelt" zu bewahren und alsbald zu verheiraten.

Die Gattenwahl ihrer Eltern, einen Adjutanten des Zaren, lehnte sie kategorisch ab. Als sie sich in ihren armen Vetter Wladimir Kollontai verliebte und ihn unbedingt heiraten wollte, verlangten ihre Eltern von ihr ein Jahr Wartezeit und schickten sie zur Ablenkung nach Paris. Vergebens. 1893 wurde sie mit 21 Jahren Madame Kollontai, bekam 1 Jahr später ihren Sohn Michail und begann festzustellen, daß eine traditionelle Ehe mit einem Schmalspur-Karrieristen ihre Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllte. Sie beschloß Schriftstellerin zu werden.

In der Zwischenzeit war Zar Alexander II, der die Oppositionellen gnadenlos verfolgen ließ, von einer Organisation, die sich "Volkswillen" nannte, durch ein Attentat im Jahre 1881 getötet worden. Ihm war sein Sohn, Alexander II nachgefolgt. Erhoffte Reformen waren ausgeblieben.

Die Unzufriedenheit im Lande und die oppositionellen Gruppen wuchsen. Moderne Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien verbreiteten sich in Rußland. 1894 starb unerwartet der Zar. Sein Nachfolger wurde sein 26jähriger Sohn, Nikolaus II. Auch er erfüllte die Hoffnung auf eine Liberalisierung des Staates nicht, im Gegenteil: Das Polizeiregime wurde schärfer, der Unmut der Bevölkerung stieg.

Alexandra Kollontai kam durch ihren Mann, einen Ingenieur, mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter in Berührung. Sie war empört über die unmenschlichen Zustände und wollte ihren Beitrag zu einer Änderung leisten. Die Schriften von Karl Marx waren ihr bekannt. Sie besuchte alle Vorlesungen über sozial-ökonomische Probleme, um sich theoretisch weiterzubilden. Sie engagierte sich im "Wandermuseum für Lehr- und Lernmittel", das für die Bildung der Arbeiter, des Landvolkes und der Gefangenen, auch der politischen, einen großen Beitrag leistete. Hier kam sie mit der illegalen sozialdemokratischen Partei Lenins in Kontakt. 1898 erschien in einer legalen marxistischen Monatsschrift ihr erster Artikel. Es ging darin um pädagogische Fragen und, vor allem, um den Einfluß des Milieus auf den kindlichen Charakter. Im selben Jahr fuhr sie nach Zürich und studierte bei Prof. Herkner Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Hier wurde sie, nach eigenen Aussagen, Marxistin.

Die nächsten Jahre reiste sie viel: nach England, Finnland und Deutschland zum Studium der dortigen Arbeiterbewegungen. Innerhalb der nationalen sozialdemokratischen Parteien engagierte sie sich hauptsächlich in der sich formierenden Frauenbewegung. Sie vertrat bereits damals den Standpunkt, daß eine Gleichberechtigung von Mann und Frau nur dann erreicht werden kann, wenn die Frau in den gesellschaftlich wichtigen Produktionszweigen gleichberechtigt arbeiten kann, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Familienstand. Dazu wären die gleichen Ausbildungsmöglichkeiten wie für Männer und zusätzlich staatliche Kinderkrippen, Kindergärten und Horte für die Kinder der berufstätigen Frauen erforderlich. Damit ging sie über die Ziele der "bürgerlichen Feministinnen" hinaus, mit denen sie in den Forderungen nach politischer Gleichberechtigung und einem geregelten Mutterschutz überein stimmte.

Während ihrer Auslandsaufenthalte arbeitete sie als Journalistin, Lektorin und Agitatorin für die internationale Sozialdemokratie. in der russischen Arbeiterbewegung versuchte sie, vor allem die Arbeiterinnen für ihre Ziele zu gewinnen.

Beim Zug der Petersburger Arbeiter zum Zarenpalast am 9. Januar 1905, der blutig endete, war sie dabei. 1908 erhob der Staatsanwalt Anklage gegen sie wegen ihrer politischen Tätigkeit. Vor ihrer Verhaftung konnte sie Rußland verlassen. Einen großen Teil ihres Emigrantenlebens verbrachte sie in Deutschland, für die sozialdemokratische Partei arbeitend. 1914 wurde sie von den deutschen Behörden verhaftet, durfte nach Dänemark ausreisen, wurde dort wegen "antiimperialistischer Propaganda" ausgewiesen, etwas später aus dem selben Grunde "für immer" auch aus Schweden und fand dann in Norwegen Asyl. Auf Einladung der deutschen Sektion, der sozialistischen Partei Amerikas fuhr sie vom Oktober 1915 bis März 1916 durch die USA. Sie hielt in dieser Zeit 123 Referate in vier verschiedenen Sprachen.

Am 17. März 1917, dem 27. Februar der russischen Zeitrechnung, brach in Rußland die bürgerlich-demokratische Februarrevolution aus. Am 31. März kehrte Alexandra Kollontai in ihr Heimatland zurück. Im Gepäck hatte sie Artikel Lenins zur Lage Rußlands.

Die Ereignisse überschlugen sich: Lenin kam ebenfalls zurück, mußte aber bald wegen Ermordungsgefahr in die Illegalität gehen, Alexandra Kollontai wurde von der Kerenskij-Regierung verhaftet, nach einigen Wochen auf Ersuchen Maxim Gorkijs gegen Kaution entlassen und unter Hausarrest gestellt. Die zweite Revolution, die sogenannte Oktoberrevolution, wurde geplant und durchgeführt: die Regierung übernahm der Rat der Volkskommissare mit Lenin als Vorsitzendem. Alexandra Kollontai wurde Volkskommissar für Staatliche Fürsorge, legte dieses Amt aber 1918 wegen Meinungsverschiedenheiten über den Friedensvertrag von Brest-Litowsk nieder. Während des Bürgerkrieges von 1918 bis 1920, arbeitete sie in verschiedenen hohen Ämtern im Zentralkomitee, vor allem für die politische Arbeit unter den Frauen. Sie schrieb zahlreiche, Broschüren und Artikel zu Fragen der neuen kommunistischen Moral, zur Ehe und den Problemen der Gleichberechtigung. Zu diesen Themen hielt sie auch Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen, die in der Frauenarbeit tätig waren.

Die wirtschaftliche Situation im neuen Staat, der gleiche Rechte für Mann und Frau in einer klassenlosen Gesellschaft vorsah, war nach Krieg und Bürgerkrieg katastrophal, die Probleme des Privat- und Volkseigentums nicht ausreichend gelöst. Der Versuch, den Erwerb von Privatvermögen in bestimmten Zweigen der Wirtschaft zuzulassen, wurde beendet. Diese "Neue ökonomische Politik", NEP genannt, führte nicht zu einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung, wie erhofft, sondern nur dazu, daß eine neureiche Schicht entstand, alle anderen aber arm blieben.

Vor der Revolution war Alexandra Kollontai stets mit Lenin konform gegangen. Als der ersehnte neue Staat gegründet war, traten in der Umsetzung politischer Ziele in praktische politische Richtlinien Differenzen zur offiziellen Parteimeinung auf. Vielen gingen die von ihr geforderten Maßnahmen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung zu weit. Andere Punkte kamen hinzu. Daher bat Alexandra Kollontai die Partei, ihr neue Aufgaben zuzuweisen, eventuell auch im Ausland. 1922 trat sie in den diplomatischen Dienst ein und wurde 1923 Leiterin der Vertretung der UdSSR in Norwegen. In diesem Jahr erschienen ihre Bücher »Wege der Liebe« und »Frau im Umbruch«, die sich mit menschlichen Schwierigkeiten beim Praktizieren der neuen Gleichberechtigung befassen.

Die diplomatische Laufbahn der Alexandra Kollontai dauerte bis 1945. Sie war Gesandtin der UdSSR in Norwegen, Mexiko und Schweden. Als die Gesandtschaft in Schweden 1943 Botschaft wurde, wurde sie dort Botschafterin. Sie war die erste Frau, die eine Weltmacht diplomatisch vertrat und war als Diplomatin in diesen schwierigen Zeiten äußerst erfolgreich. 1952 verstarb sie mit 80 Jahren als eine der wenigen Weggefährten Lenins, die Stalin nicht in ein Lager verbannen konnte.

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