Neue Züricher Zeitung 28./29. August 2004

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Die Natur kehrt in ihr Gleis zurück

Von Kurt Flasch

Wie ein Philosoph sein Altern erlebt, hängt nicht nur, aber doch auch davon ab, welche Philosophie er hat. Platon definierte: Philosophieren heiße Sterben lernen. Ein gealterter Philosoph müßte sich demnach aufs Sterben verstehen. Ich kannte und kenne viele alt gewordene Philosophen aus nächster Nähe; mit einigen von ihnen war und bin ich befreundet. Aber ich habe keinen gefunden, der es aus philosophischen Gründen mit dem Sterben eilig gehabt hätte, sozusagen um möglichst bald die reinen Ideen zu erblicken. Sie zeigten und zeigen zähen Lebenswillen; Todessehnsucht fand ich eher bei jungen Leuten.

Viel kommt darauf an, wie man "Philosophie" versteht. Wer Philosophen als Kulturschöpfer denkt, als Finder von Werttafeln für Jahrhunderte oder als radikal-idealistische Metaphysiker, sucht sie eher bei jungen Genies. Ein alternder Philosoph bringt den visionären Schwung kaum auf, mit dem die Alles-Erneuerer aufgetreten sind: der junge Fichte, der frühe Schelling, der aufbegehrende Karl Marx. Welkende Denker trösten sich zuweilen mit dem Gedanken, Kant sei zwar in jungen Jahren ein origineller Kopf und ein großer Schriftsteller gewesen, habe aber erst in reifen Jahren seine kopernikanische Wende erdacht und habe sie noch bis kurz vor seinem Tod erweitert und wesentlich verändert. Hat nicht auch Platon noch in den letzten Lebensjahren seine Philosophie entscheidend umgebaut? Gewiß, aber welcher Philosoph wird, wenn er in die Jahre kommt, sich mit Kant und Platon vergleichen?

JUGENDTRÄUME

Denker, die große Metaphysiken erfinden und neue Wertetafeln aufstellen, assoziieren wir mit "Jugend". Aber es gibt noch andere philosophische Jugendträume, die sich im Alter verlieren: Auch "Philosophie" als "Wissenschaft", als überschaubares Gewebe überprüfbarer Argumente, ist eher die Domäne der Jüngeren, die noch glauben können, durch endliche Ketten korrekter Beweise Lebensfragen entscheiden zu können. Ich jedenfalls habe mit neunzehn mehr an den Tod gedacht als mit vierundsiebzig. Denn ich wollte ein gründlicher, d. h. rein systematischer Philosoph werden. Ich hatte ein Programm und plante die einzelnen Schritte. Ich notierte mir, daß ich Metaphysik und Geschichtsbewußtsein zur Synthese führen wollte, und kalkulierte dafür volle acht Jahre intensiven Studiums. Danach wollte ich zwei Jahre lang das bewiesene Ergebnis meiner Forschung präsentieren. Älter als dreißig wollte ich keineswegs werden.

Aber dann kam das Leben und schlängelte sich so dahin. Es verhielt sich gleichgültig bis widerspenstig gegen Plan und höhere Bedeutung. Beweisketten hatte ich geschmiedet, aber wenn ich am letzten Glied angekommen war, wußte ich nicht mehr so recht, an welchem oberen Prinzip ich sie aufzuhängen hätte. Kurz: Mein Konzept von Philosophie als Wissenschaft geriet in zunehmende Verwirrung. Ich sah mich um: Auch andere hantierten unschlüssig mit ihren Beweisketten; einige posaunten, sie hätten den Ur-Haken gefunden, und gaben sich zufrieden. Nach zehn Jahren erwies sich ihre technokratische Aktion als bloße Mode.

Inzwischen dauerte das Leben länger als erwartet, und der Alternde änderte seinen Begriff von Philosophie. Der Pensionär des Weltgeistes deutete sie als Prüfen von Argumenten, als historische Umsicht und als Gelehrsamkeit. So kann er Jahrzehnte überdauern. So werden Umstürzler und Beweistechniker schließlich zu Lesern; sie kramen in Einzelheiten. Am besten, sie wiederholen, was sie früher gedacht haben, dann wird auf die Dauer das Fernsehen auf sie aufmerksam, und sie werden berühmt. Philosophie selbst ist ins Greisenalter gekommen, daher leben Greise gut mit ihr. Was speziell die deutschen Denker angeht, so sind viele Beobachter froh, daß sie auf diese Weise nicht, wie einige ihrer Vordenker, größeren Schaden anrichten. Sie steigen vom Podest der Bedeutsamkeit. Sie treten nicht mehr auf, als müßten sie täglich die Weltachse schmieren. Manche, die früher gottlos tönten, werden fromm; sie beseitigen wieder einmal das Wissen, um zum Glauben Platz zu bekommen. Sie bereiten sich und andere für die Ewigkeit vor. Wieder andere schreiben ihre Memoiren, in denen steht, welche bedeutenden Männer sie getroffen haben.

EINE AUSNAHME

Aber etwas stimmt nicht an ihrem gesetzten Wesen. Es ist ein wenig zu normal. Kann man sich so einen großen Musiker denken? Hatte Philosophie nicht einmal etwas von Welt-Entwurf, von Einsamkeit und Kreativität? Das klingt ein wenig zu existentialistisch, aber gilt doch auch für den ruhig argumentierenden Plotin und den brillenschleifenden Spinoza. Etwas Exzentrisches müssen Philosophen an sich haben; sie stellen sich dem Zentrum des normalen Lebens gegenüber. Studenten behalten manchmal noch das Großherzige, Unegoistische des reinen Interesses, das sie als Kinder besaßen. "Allein", schreibt Schopenhauer, "die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehn, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wenn man sie in späteren Jahren wieder antrifft."

Philosophie und Dichtung sind der reine Übermut; es ist schwer, ohne Selbstüberschätzung hineinzukommen, und noch schwerer, darin lebenslang zu verharren. Komische Figuren sind sie allemal - die jungen Genies und die alten Skeptiker. Aber es gab auch die Ausnahme: Er war siebzig und blieb frech. Er ehrte die Götter und sagte offen, daß er nichts wisse. Und doch wurde er das Urbild der Philosophen, der jungen und der alten: Sokrates.




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Kurt Flasch, geboren 1930 in Mainz, war von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1995 Ordinarius für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist u. a. Mitglied der Römischen Akademie der Wissenschaften (Accademia Nazionale dei Lincei) sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In seinem Hauptarbeitsgebiet, der Philosophie der Spätantike und des Mittelalters, hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt ist erschienen: »Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay« (Stuttgart 2004).

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