Werner Mittenzwei - Börsenblatt 8/29.1.1993
"Deutsches Mentalitätspanorama"

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Börsenblatt Nr. 8/29.1.1993 "Hintergrund"

Interview mit Ulrich Faure

Deutsches Mentalitätspanorama

Prof. Dr. Werner Mittenzwei gehört zu den herausragenden Literaturwissenschaftlern in der ehemaligen DDR. Nach seiner auch seinerzeit im Westen veröffentlichten Brecht-Biographie hat er beim Berliner Aufbau-Verlag ein neues Buch vorgelegt: »Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen«

Es ist nicht eben häufig, daß Literaturwissenschaftler auch gute Geschichtenerzähler sind. Prof. Dr. Werner Mittenzwei gehört zu ihnen. Immer Wieder gelingt es Ihm in seinen Büchern, komplizierte Zusammenhänge so aufzuarbeiten, daß das Lesen zum Vergnügen wird. Abstriche an der wissenschaftlichen Seriosität hat Mittenzwei dabei nie zugelassen. Auch sein neues Buch über den Untergang der Preußischen Akademie der Künste ist ein einzigartiges Leseabenteuer.

BÖRSENBLATT-Redakteur Ulrich Faure sprach mit Werner Mittenzwei über Sein neuestes Buch.

Sie haben Bücher über Bertolt Brecht, darunter eine zweibändige Biographie, geschrieben, über das Exilland Schweiz gearbeitet und zahlreiche Arbeiten zum deutschen Expressionismus veröffentlicht. Wie kamen Sie dazu, die Geschichte der Preußischen Akademie der Künste von 1918 bis 1947 zu schreiben?

Mittenzwei: Dazu gab es viele Anlässe. Der wesentliche war, daß ich vor langen Jahren einmal vorhatte, eine dreibändige Geschichte der Preußischen Akademie der Künste von den Anfängen bis zur Gegenwart zu erarbeiten. Den ersten Band über das 18. Jahrhundert wollte meine Frau schreiben, die anderen beiden Bände ich. Daraus ist nichts geworden, es gab auch an der Akademie selbst kein allzu großes Interesse. Damals war gerade die Brecht-Biographie mit einigen brisanten Geschichten erschienen, und man konnte sich leicht ausrechnen, welche Probleme bei der jüngsten Akademiegeschichte dann hochkommen würden. Ein weiterer Anlaß für das Buch: Ich war schon 1968/1969 auf interessantes Material gestoßen: Archivalien über die Akademie-Opposition, über den "Wartburgkrieg" des Börries, Freiherr von Münchhausen. Aus diesem Material entwickelte sich ein Thema, das zwar bei der Akademie blieb, aber eine zweite Geschichte mit einbezog: die Geschichte der national-konservativen Literatur in Deutschland nach 1918. Diese Verquickung hat mich interessiert, und darüber habe ich geschrieben.

Der Untertitel des neuen Buches lautet »Die Mentalität des ewigen Deutschen«. Könnten Sie diese Mentalität kurz, beschreiben?

Mittenzwei: Das ist schwer auf einen Nenner zu bringen, ich scheue mich davor. Der Epilog des Buches geht noch einmal auf diese Mentalität ein. Ich will keine Verallgemeinerung vornehmen. Ich wollte erzählen, wie sich solch eine Mentalität entwickelt, wie Mentalitätsstürze entstehen. Es ist interessant: Gerade Mentalitäten sind schwer zu erschüttern, sie halten sich länger als politische Überzeugungen. Und doch: In Deutschland gab es nach 1918 eine Mentalität, die sich einerseits von dem Deutschlandpatriotismus des Wilhelminischen Reiches abgrenzte, sich andererseits aber tief verletzt fühlte durch die europäische Ausrichtung der Weimarer Demokratie. Aus diesen Verletzungen, wobei die durch die Moderne mit einbezogen werden müssen, forcierten die Konservativen ihr Deutschtum, gerieten mit Leuten, für die das Deutschtum eigentlich nie eine Schwierigkeit war - wie zum Beispiel Thomas Mann - aneinander, bis die Konfrontation unübersehbar wurde. Diese Geschichte der Konfrontation, die eine so langsame Entwicklung nahm und zu der Ausgrenzung, Austreibung und schließlich Verfolgung gehörten, das ist die Geschichte der Mentalität des ewigen Deutschen. Zu fragen ist dann: Was ist nun aus dieser Mentalität geworden? Das ist aber nicht mehr meine Geschichte.

In Ihren bisherigen Büchern geht es um Literatur, die bis heute sehr lebendig geblieben ist. In der Akademie saßen zahlreiche Literaten, die mehr oder minder vergessen sind. Was hat Sie gereizt, sich gerade mit ihnen auseinanderzusetzen?

Mittenzwei: Die Ausarbeitung der Akademiegeschichte hat mich direkt dazu gezwungen, mich auch mit dem künstlerischen Werk dieser Autoren und nicht nur mit ihren politischen Ansichten auseinanderzusetzen. Nach dem Krieg sind wir in Ost und West einer Konstruktion aufgesessen, die die Nationalsozialisten selbst geprägt haben: Sie haben alles, was das Dritte Reich für sich beanspruchte, als nationalsozialistische Literatur einvernommen. Die Konstruktion wurde mit umgekehrtem Vorzeichen nach dem Krieg aufgegriffen, auch wenn die Wertungen in Ost und West anders aussahen. Aber: Das ist eine pauschale Literaturbetrachtung. Sie ebnet die Gegensätze ein und macht gar nicht mehr sichtbar, wie Gegensätze entstanden sind. Da mußte man einfach einmal dahinterleuchten.

Sie schreiben nicht allein die Geschichte einer Institution, Sie reflektieren Zeitgeschichte. Bisher haben Sie die Jahre ab 1933 hauptsächlich aus der "Exilsicht" betrachtet. Woher kommt das Interesse einer "Innensicht"?

Mittenzwei: Das kann ich genau sagen, es hängt mit dein Antrieb zu diesem Buch zusammen. Als ich über das Exil schrieb und viele Exilanten befragte, wollte ich Immer gern wissen, wie sie über die Gegenseite, über die künstlerische Arbeit der in Deutschland Gebliebenen gedacht haben. Als ich eine Zeitlang am Wiener Burgtheater gearbeitet habe und Leopold Lindtberg dort inszenierte, habe ich mich mit ihm nächtelang unterhalten. Lindtberg hat ja 1940 diese berühmte »Faust«-Inszenierung in Zürich gemacht - und zugleich machte Gründgens den »Faust« in Deutschland. Ich habe Lindtberg gefragt, ob er seine Inszenierung als Gegenentwurf verstanden habe. Dabei stellte sich heraus, daß er an so etwas nicht im entferntesten gedacht hatte. Das hat ihn gar nicht interessiert. Als ich Wolfgang Heinz die gleiche Frage stellte, war er nachgerade empört, daß ich ihm zumuten wollte, sich auch noch damit zu beschäftigen. Ein Buch, das ich mir gedacht habe über die Konfrontation mit der Kunst des Dritten Reichs, war also nicht möglich. So, sah ich mich letztlich gezwungen, die Seite des Dritten Reiches separat zu behandeln.

Ihre Brecht-Biographie hat in der DDR lange auf Eis gelegen, ehe sie erscheinen konnte. Mit der Akademiegeschichte haben Sie 1988 begonnen, als die Wende noch nicht abzusehen war. Haben Sie Komplikationen befürchtet?

Mittenzwei: Davon bin ich nie ausgegangen, auch bei der Brecht-Biographie nicht. Ich habe mir die Risiken nicht vorher ausgerechnet. Das heißt allerdings nicht, daß ich so blauäugig war, zu glauben, es würde alles anstandslos durchgehen. Ich habe soviel über Brecht geschrieben, mich unendlich gemüht, ihn in der DDR heimisch zu machen und von Vorurteilen zu befreien - da wollte ich ein Buch über ihn schreiben, wie ich ihn sehe. Weiter nichts. So bin ich auch an die Akademiegeschichte herangegangen. Ohne zu fragen: Wo könnte da etwas passieren? So wie das Buch jetzt ist, hätte ich natürlich Schwierigkeiten bekommen. Aber man darf auch nicht vergessen: Wir waren ein wenig trainiert, solche Schwierigkeiten zu überwinden.

Wie kommt es, daß sich die Historiker bisher so wenig mit der Akademie beschäftigt haben, in deren Geschichte, wie im Buch nachzulesen, die Geistesgeschichte eines großen Teils unseres Jahrhunderts zu finden ist?

Mittenzwei: Das ist schwer zu sagen. Eine neuere Gesamtdarstellung gibt es tatsächlich nicht. Der letzte Versuch liegt an die 100 Jahre zurück. Die Zeit von den 20er Jahren bis 1933 ist allerdings schon ein bißchen bearbeitet worden. Meine Quellen haben mich noch auf eine ganz andere Fährte geführt, und das brachte natürlich auch eine andere Sicht auf das bekannte Material.

Nach vielen vergeblichen Anläufen wurde1926 eine Sektion Dichtkunst der Akademie angegliedert. Sehen Sie in diesem verspäteten Beschluß einen Ausdruck des Konservatismus dieser Einrichtung?

Mittenzwei: Das könnte man so ausdrücken, obwohl es etwas komplizierter ist. Der Versuch, eine Dichterakademie zu gründen, geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. 1918, heim Übergang von der königlichen zur republikanischen Akademie, war der damalige Präsident sehr interessiert, die Dichtkunst einzugliedern. Auch der Preußische Kultusminister hat diese Bestrebungen unterstützt - es scheiterte damals schlicht und einfach am Geld. Es ist Max Liebermann zu danken, der langsam und behäbig und ohne große Pamphlete eine solche Dichterakademie durchgesetzt hat.

Ab 1933 nimmt das Gerangel um Einfluß auf die Akademie neue Dimensionen an. Gottfried Benn hat eine wichtige Rolle gespielt, um die Gleichschaltung und "Säuberung" einzuleiten. Benn ist eine der schillernsten Figuren der deutschen Literaturgeschichte. Sie widmen ihm im Buch großen Raum. Wo ist seine Größe und Grenze?

Mittenzwei: Benn hat mich mit am meisten interessiert, auch wenn ich kein Benn-Forscher bin. Aber er hat auf mich eine große Wirkung ausgeübt. Weil viele der jetzigen Vorstellungen von Benn allzu kurzschlüssig erscheinen, wenn man die ganze Tragödie dieses Mannes betrachtet. Man darf nicht nur sehen, wohin er die Akademie geführt hat, was er beigetragen hat zu ihrem Sturz, sondern auch, wie es ihm danach ergangen ist. Seine Tätigkeit wurde von keiner Seite honoriert. Da ist mir eine interessante Eigenschaft an Benn aufgefallen, die mich am meisten beeindruckt hat: daß diesem Benn die ganze ideologische Oberanstrengung in den 20er Jahren, diese Richtungskämpfe, die Vorstellungen von einer anderen Republik derart abseitig vorgekommen sind, daß er meinte, es komme nicht auf die Heilsvorstellungen an, sondern auf die elementaren Geschichtsabläufe, die in sich ganz brutal verlaufen. Ich teile diese Auffassung nicht, aber da hat Benn, als er 1933 in Entscheidungszwang geriet, sich seinen ganzen Haß gegen diese Heilsvorstellungen von der Seele geladen. In einer extrem subjektiven Weise. Den Leuten, die diese Vorstellungen am konsequentesten vertreten haben, hat er vor Augen gehalten, wie "weit" sie mit ihrer "neuen Welt" gekommen sind. Für ihn lief die Welt nicht auf ein Paradies, sondern eher auf eine neue Eiszeit hinaus. Er hat einen schweren Fehler dabei gemacht: Er hat Hitlers Machtergreifung mit den elementaren Geschichtsabläufen verwechselt.

Ausführlich beschäftigen Sie sich mir Börries, Freiherr von Münchhausen der heute beinahe vergessen ist. Welche Bedeutung hat er als Autor in der deutschen Literaturgeschichte?

Mittenzwei: Wenn man nur seine dichterische Bedeutsamkeit hervorhebt, scheint mir die nicht sehr groß. Wofür er noch in älteren Literaturgeschichtsdarstellungen gelobt wird - als Erneuerer der Ballade - das hat sich als nicht haltbar erwiesen. Der Erneuerer der Ballade war eher Brecht. Man kann seine Bedeutung nicht von seiner Dichtung herleiten. Er hat eine Literaturstrategie betrieben, die erst zur Formierung des nationalkonservativen Lagers geführt hat. Und er war auch bestrebt, die nationalsozialistische Literatur in seine Konzeption einzubeziehen- obwohl er gerade mit ihren Vertretern in Konflikt geriet. Die Rolle, die er in dieser Zeit in der Literatur gespielt hat, ist die Rolle, die von Papen in der Politik einnahm. Insofern ist er eine graue Eminenz gewesen, was der Literaturgeschichte bis jetzt noch gar nicht aufgefallen ist.

All anderer Stelle haben Sie geschrieben, daß sich die marxistische Ästhetik als brauchbarer als manche andere Ästhetik erwiesen hat. Wo sehen Sie die besonderen Qualitäten?

Mittenzwei: Man darf darunter keine Ästhetik verstehen, die sich nach den Interessen der jeweiligen Regierung und ihrer Literaturverantwortlichen richtet. Diese Ästhetik geht von Möglichkeiten und Widersprüchen aus. Und inwieweit Widersprüche bestimmte ästhetische Qualitäten auslösen, das ist eigentlich der marxistische Kerngedanke. Die materialistische Dialektik ist für mich immer noch die denkbar beste Methode, gerade Widersprüche wie bei Benn in den Griff zu kriegen. Insofern meine ich, ist sie noch höchst brauchbar und wird es auch lange noch bleiben für Leute, die sie handhaben können. Allerdings muß man da schon ein paar Zentner Material bewegt haben - mit "Eingebungen" ist nicht viel zu machen.

In der DDR-Literatur-Geschichtsschreibung ist vieles entstanden, was heute nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Sie haben bei Reclam Leipzig eine mehrbändige Exilgeschichte mit herausgegeben (und den Schweiz-Band selbst geschrieben). Diese Werke sind teilweise politisch so eingefärbt, daß sie heute unzumutbar erscheinen. Als Fakten und Quellenmaterial allerdings genießen sie hohe Wertschätzung. Wird es eine Bearbeitung geben?

Mittenzwei: Das glaube ich nicht. Weil das Herausgeberkollektiv, das damals diese sieben Bände erarbeitet hat in der Zwischenzeit auseinandergefallen ist. Was die Einschätzung dieser Ausgabe angeht, bin ich mit Ihrer völlig einverstanden. Allerdings trifft das nicht auf alle Bände gleichermaßen zu. Es gibt eine ganze Reihe von Länderdarstellungen, die bis heute volle Gültigkeit haben. Die größten Probleme gibt es mit dem UdSSR-Band. Aber ich glaube, die Geschichte könnte man selbst heute nicht endgültig schreiben. Die Exilforscher in den alten Bundesländern haben uns diese Ausgabe jetzt noch einmal deutlich vorgeworfen, das geht bis zur gegenseitigen Ausgrenzung. Aber die Taktik bei der Herausgabe dieser Exilgeschichte war: die Möglichkeiten bis zur äußersten Grenze auszunutzen. Und selbst der UdSSR-Band ist im Prinzip schon über das damals Erlaubte hinausgegangen. Gerade dieser Band hat uns unbeschreibliche Verdächtigungen angetragen. Übrigens von seiten der Exilanten selbst. Die Architekten beschwerten sich, daß sie nicht gleichwertig behandelt wurden mit den Architekten, die im USA-Exil waren. Aber sie wollten natürlich nicht, daß wir darstellten, daß sie als Architekten in Stalins Lagern gearbeitet haben …

Sie sind auch Mitherausgeber der großen Brecht-Ausgabe bei Aufbau und Suhrkamp. Die Arbeit wurde zu DDR-Zeiten begonnen. Wie geht sie weiter?

Mittenzwei: Ich denke doch, daß diese Arbeit zu Ende geführt wird, so wie sie geplant ist. Im Unterschied zu manchen Zerwürfnissen, die sich bei Ost-West-Produktionen eingestellt haben, ist das bei unserem Gremium nicht passiert. Wir sind mit der Ausgabe ziemlich weit, weiter als es an den fertigen Bänden abzulesen ist. Etwa zwei Drittel der Arbeit ist getan. Ich würde sagen: Die Ausgabe ist über den Berg. Probleme gibt es vor allem mit dem Umfang, weil die Briefbände außerordentlich groß werden. Und der Band mit den Fragmenten von Stücken: Brecht hat Über 130 davon hinterlassen. Da gibt es noch einiges zu klären.

Ad personam: Werner Mittenzwei

Werner Mittenzwei wurde 1927 in Limbach (Sachsen) geboren. Nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Neulehrer. Studium der Pädagogik und Literaturwissenschaft. Hochschullehrer. Werner Mittenzwei ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft in Berlin. Besonders intensiv widmete er sich dem Leben und Werk Bertolt Brechts: er ist auch Mitherausgeber der »Großen Kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe«, die als Ko-Edition zwischen den Verlagen Aufbau Und Suhrkamp entsteht.

Wichtige Werke: »Gestaltung und Gestalt im modernen Drama« (Aufbau 1965), »Exil in der Schweiz« (Reclam Leipzig 1978), »Der Realismus-Streit um Brecht« (Aufbau 1978), »Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« (Aufbau 1986), »Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen« (Aufbau 1992). Darüber hinaus ist Prof. Dr. Werner Mittenzwei als Herausgeber hervorgetreten. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge in verschiedenen Zeitschriften.

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