Buchkritik Hermann Peter Piwitt
»Ein unversöhnlich sanftes Ende« 

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Frankfurter Rundschau,
Literaturseite vom 1.8.1998 von Hermann Wallmann

Hermann Peter Piwitt
»Ein unversöhnlich sanftes Ende«

Seiner Sammlung von Essays, Reportagen und Polemiken, die 1985 unter dem allegorischen Titel »Die Umseglung von Kap Hoorn durch das Vollschiff Susanne 1909 in 52 Tagen« erschienen ist, hat Hermann Peter Piwitt (geb. 1935) ein Motto von Joseph Roth vorangestellt: "Den Männern der Statistik fällt nichts auf, und die Beobachter haben soviel zu besichtigen, daß ihnen das Sehen vergeht!" Der Satz stammt aus einem von Joseph Roths russischen „Reisebildern", erschienen 1929 in der Frankfurter Zeitung. Wer bei Roth - um den Preis, sich festzulesen - nachschaut, muß feststellen, daß Piwitt generalisierend unrichtig zitiert hat. Roth - mit Blick auf den Revolutionskitsch, der "Lenin auf einem Tintenfaß, Marx als Papiermessergriff, Lasalle über Kaviarbüchsen" feilbietet - spricht von den Männern der Statistik, denen dergleichen nicht auffalle, und den fremden Beobachtern, denen das Sehen vergehe. Ihm ist es also nicht um den selbst im übertragenen Sinn trivialen Unterschied zwischen den Blinden und den Sehenden zu tun, sondern um die Differenz zwischen (geblendeter oder verblendeter) Einäugigkeit und (hellsichtiger) Fremdheit.

Wer die ästhetischen und politischen Errungenschaften des »Unversöhnlich sanften Endes« würdigen will, tut gut daran, in dem besagten Essayband nachzulesen, wie Piwitt sich mit Botho Strauß' Paare, Passanten und einem ganz anderen "Beobachtungs"-Buch auseinandersetzt, nämlich mit Rolf Dieter Brinkmanns »Rom, Blicke«, und es sei ihm empfohlen, sich an dasjenige der Bücher von Hermann Peter Piwitt zu erinnern, dessen (poröse) Struktur und (politische) Thematik mit derjenigen des neuen Romans noch die größte Ähnlichkeit haben: »Deutschland, Versuch einer Heimkehr« (1982).

Aber erst jetzt ist Hermann Peter Piwitt zu einem fremden Beobachter geworden, er spricht nicht mehr von Deutschland, erst recht nicht mehr von Heimat. (West-)Europa ist das "Großterritorium", die Bundesrepublik das "Territorium", die neuen Bundesländer sind das "einverleibte Terrain", und dann gibt es immer wieder ein Gebiet, das Piwitt "südlich des Territoriums" lokalisiert. Aber nicht diese (recht durchsichtige) Ver-Fremdung ist das Entscheidende. In seinem vor gut fünfzehn Jahren erschienenen Deutschlandbuch ist sich der Autor seiner selbst noch sicher gewesen. Die neuen Aufzeichnungen - und um solche handelt es sich selbst dann noch, wenn sie sich narrativ anekdotisch zuspitzen - verfügen über ein eindeutiges Subjekt nicht mehr. Der da "ich" sagt, ist ebenso ein Rollenspieler wie der "andere" Erzähler, der immer wieder "vom Reisenden" berichtet, die erzählenden und die erzählten Biographien trennt und verbindet mehr als die klassische Empathie zwischen Autor und Figur. Was sich wie eine existentielle Brandrede anhört, ist gleichzeitig das poetologische und gewissermaßen dramaturgische Programm, dem (und das) Piwitt sich verschrieben hat: "Ich ist gar nichts. Man hat es am Hals. Und auch das noch: 'man'! Mit ich wollen wir gar nicht erst anfangen. Ich überlassen wir gerade mal das Wort, in wessen Haut auch immer. Mit du hört, der Spaß auf. Es mischt sich nur ins Sterben."

»Dem Versuch einer Heimkehr« hatte Piwitt keine Gattungsbezeichnung vorangestellt, aber obwohl »Ein unversöhnlich sanftes Ende« ein ganzes Spektrum literarischer Formen einschließt und nicht nur im Zweifelsfall zur Gattung der autobiographischen "Aufzeichnungen" gehört, die Hugo Dittberner 1996 in einer Poetikvorlesung als "Leitform" dieser Jahre aufgewiesen hat, steht da jetzt "Roman". Mag für die illusionslose und kämpferische Melancholie Piwitts tatsächlich Joseph Roth stehen, mag für den Beobachter, der fremd im eigenen Land ist, sogar ein Autor wie Alfred Polgar stehen - für die Bandbreite, über die Hermann Peter Piwitt in diesem Roman verfügt, lassen sich zwei große angelsächsische Autoren nennen: der Satiriker Jonathan Swift und der Sensualist Vladimir Nabokov.

Beispiel für ein Schreiben in der Tradition des ersteren kann der "Bericht des Reisenden" von einer Region namens "Otrotodnom" (ein anagrammatisch aufgeheiztes italienisches Pallindrom: mondo torto, verkehrte Welt) sein, eine Parabel über Deutschland und die Welt in den Zeiten der "cholerischen" Ökonomisierung und Globalisierung: "Es werden Meeresbuchten zugeschüttet zur Bodengewinnung. Zugleich wird Getreide ins Meer geschüttet. Dann werden Meeresbuchten ausgebaggert wegen der Schiffahrt. Aus dem Schlick werden Berge gebaut wegen des Fremdenverkehrs. Welche applaniert werden, damit Getreide angebaut werden kann; das man ins Meer schütten kann, das aufgeschüttet wird usw. usw."

Das Vertrackte: südlich des Territoriums gibt es kein Heil. Nicht parabolisch, sondern positivistisch erzählt Piwitt von einem Herrn C., der sein von Olivenbäumen lästig bestandenes Grundstück betoniert, von Jägersteigen, die zu Trekking-Pfaden "umgewidmet" werden, von Seen, die "trockenfallen", kaum daß es die touristischen Sportfischer-Karten gibt. Den stupenden Sensualismus - alle Psychologie ist Oberfläche - kann eine der zahlreichen Freibad-Miniaturen belegen. (Neben dem "territorialen" nördlichen und dem bedrohten "südlichen" Strang aus Prosa-"Stücken" gibt es zwei weitere einander zugeordnete Stränge, den bereits erwähnten des befremdet "Reisenden" und einen des hingerissenen, in einem Freibad "ruhenden" Beobachters. ja Voyeurs.) Piwitts - um es einmal doppeldeutig auszudrücken - Ich-Beobachter kann die Augen nicht abwenden von einem zwölf-/dreizehnjährigen Pärchen, "Das Mädchen saß auf den Knien. Aus ihrem runden, schönen Gesicht sah sie an ihrem Begleiter vorbei, ein kleines halb hilfloses, halb amüsiertes Lächeln um die Lippen. Weg von den anderen, um mit ihr allein sein zu können, hatte er sie offenbar hierher geführt. Weg von den Ritualen des Demütigens und Dressierens am Becken, des Imponierenwollens der Jungen und des kreischenden Hineingestoßenwerden(wollens) der Mädchen. Und nun auf einmal sann er nur wie verloren, von ihr abgewendet, vor sich hin in die schräg hineingehende Sonne. Sie rupfte ein Büschel Gras aus und ließ es fallen. Sie rupfte ein zweites, ein drittes; und jetzt warf sie mit dem Gras nach ihm, bis er sich wie in einem plötzlich wachgerufenenen Entzücken ihr zudrehte."

Dieses eine und jenes andere, das ist es, was Piwitts neuen Roman zu einem Organon macht. Präzision, die verhindert, daß die Idylle zum Emblem erstarrt, Pathos, das der "narzißtischen Kälte", die Piwitt bei Botho Strauß sieht, die eigene Anfechtbarkeit entgegenhält. Einmal geht es dem Reisenden um den (jedem Leser aus den Fernsehbildern bekannten) jungen Mann, der eine Fahnenstange hinaufgeklettert ist und in eben dem Augenblick von tödlichen Kugeln getroffen wird, als er nach der verhaßten Flagge greift. Aber bei Piwitt: keine politisch korrekte Interpretation, sondern - Vivisektion: "Er aber, der Reisende (...), habe darüber keine Regung an sich verspürt. Weder Zorn auf den Polizisten, da er doch allenfalls einen alten Kinderwunsch sich erfüllt habe, einmal einen großen Säuger vom Baum zu schießen, noch Mitleid mit dem Mann, wie er um sein Leben geklettert sei, um wie als Junge auf Kirchweihfesten einmal wieder wie gewohnt unter allen Augen als schnellster oben zu sein."

Wie wenig Selbstgerechtigkeit Piwitt aus solcher Ehrlichkeit ableitet, wird im letzten Segment des Romans deutlich. Der Reisende ist zum Internierten geworden, geborgen fühlt er sich, wenn er eine Sprache hört, die er nicht versteht, aber "die ihm vertraute Landessprache (...) hält ihm im Haus." Er zieht eine Bilanz, in der positiv allein die Sprache bleibt, in der er sie vorträgt: "Bar aller Hoffnungen, hofft er noch einmal wie von Sinnen bei Sinnen, ganz bei sich zu sein. Aber er ist selbst nicht mehr ganz; denn was immer er sieht, hört, fühlt, bedenkt oder berührt: es ist schon versehrt durch die gänzliche Abwesenheit dessen, was ihm mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden ist: das kindliche Mitgefühl, die Uneigennützigkeit der Jugend, vermessene männliche Empörung."

Wer Piwitts Roman gelesen hat, weiß, daß es neben Mitgefühl, Uneigennützigkeit und Empörung noch einen vierten Weg gibt, ein unversöhnlich erschütterbares Ich, in wessen "fremder" Gestalt auch immer. Wie kommt es, daß wir in Hermann Peter Piwitt nicht längst einen zu schätzen wissen, der "unsere" Zeitläufte mustert, wie es auf seine Weise ein Lars Gustafsson tut oder auf ihre Weise eine Dubravka Ugres'sic?

Hermann Peter Piwitt: »Ein unversöhnlich sanftes Ende«. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 192 Seiten, 34 DM.

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