Wie ein Philosoph sein Altern erlebt, hängt nicht nur, aber doch auch davon ab, welche Philosophie er hat. Platon definierte: Philosophieren heiße Sterben lernen. Ein gealterter Philosoph müßte sich demnach aufs Sterben verstehen. Ich kannte und kenne viele alt gewordene Philosophen aus nächster Nähe; mit einigen von ihnen war und bin ich befreundet. Aber ich habe keinen gefunden, der es aus philosophischen Gründen mit dem Sterben eilig gehabt hätte, sozusagen um möglichst bald die reinen Ideen zu erblicken. Sie zeigten und zeigen zähen Lebenswillen; Todessehnsucht fand ich eher bei jungen Leuten.
Viel kommt darauf an, wie man "Philosophie" versteht. Wer Philosophen als Kulturschöpfer denkt, als Finder von Werttafeln für Jahrhunderte oder als radikal-idealistische Metaphysiker, sucht sie eher bei jungen Genies. Ein alternder Philosoph bringt den visionären Schwung kaum auf, mit dem die Alles-Erneuerer aufgetreten sind: der junge Fichte, der frühe Schelling, der aufbegehrende Karl Marx. Welkende Denker trösten sich zuweilen mit dem Gedanken, Kant sei zwar in jungen Jahren ein origineller Kopf und ein großer Schriftsteller gewesen, habe aber erst in reifen Jahren seine kopernikanische Wende erdacht und habe sie noch bis kurz vor seinem Tod erweitert und wesentlich verändert. Hat nicht auch Platon noch in den letzten Lebensjahren seine Philosophie entscheidend umgebaut? Gewiß, aber welcher Philosoph wird, wenn er in die Jahre kommt, sich mit Kant und Platon vergleichen?